Melodie & Rhythmus

Herzerfrischende Produktivkraft

10.03.2020 14:21

Editorial

Montage: Jüprgen Holtfreter

Montage: Jüprgen Holtfreter

Der hochentwickelte Kapitalismus begnügt sich nicht mehr mit der Spaßgesellschaft. Im Zuge des forcierten Rechtstrends errichtet er durch seine Unterhaltungsmedien eine regelrechte Spaßdiktatur. Kaum etwas ist zu banal, zu unappetitlich, zu hetzerisch, um nicht als »witzig« durchzugehen. Besonders Minderheiten und linke Oppositionelle müssen sich heute vor denen in Acht nehmen, die ja »Nuhr mal so« einen kleinen Scherz über sie machen.

»Wo der Spaß aufhört, beginnt der Humor«, stellte einst der linke Kabarettist Werner Finck fest. Diese Erkenntnis nehmen sich alle zu Herzen, die sich von dem Gedanken an die Einrichtung einer menschlichen Gesellschaft nicht verabschieden wollen. Sie begreifen Humor vor allem als herzerfrischende Produktivkraft radikaler Ideologiekritik und Agitation gegen Verhältnisse, die nicht bleiben dürfen, und Satire als seine höchste Kunstform, die lachend unerträgliche Wahrheiten ausspricht. Peter Hacks etwa setzte sie zur Entlarvung der himmelschreienden Widersprüche und Absurdität des repressiven Normalzustands und seiner verlogenen Werteordnung ein. Brecht betrachtete sie als einen Motor des revolutionären Optimismus und konnte sogar noch in der Entfremdung eine Komik entdecken.

Wie uns in düsteren Zeiten beißende Satire »Gedankenfaulheit« und Resignation austreiben kann, das weiß heute kaum jemand besser als die Kabarettisten von »Die Anstalt«. Entsprechend ist es uns eine besondere Freude, Claus von Wagner für dieses Heft gewonnen zu haben.

Dass (Selbst-)Ironie, Sarkasmus und Albernheit für Marginalisierte, Unterdrückte und Verfolgte auch ein Schutzschirm sein können, zeigen wir in unserem Feature über jüdischen Humor: Moshe Zuckermann erklärt in einem Essay, warum er sogar bis zur Adaption antisemitischer Klischees reichen kann. Einen kulinarischen Anhang bildet eine kleine Kompilation von Witzen, darunter auch bitterböse, die wir uns von internationalen jüdischen Künstlern und Intellektuellen wie Esther Bejarano, Michael Rosen, David Rovics und Leah Tsemel haben erzählen lassen.

Was das Sprichwort »Humor ist, wenn man trotzdem lacht« in der politischen Alltagspraxis bedeutet und was es als Leitmotiv einer lebendigen Gegenkultur taugt, das kann man in Kuba erfahren − einem Land im Würgegriff der US-Blockadepolitik. Das Museo del Humor in San Antonio de los Baños präsentiert schon seit Ende der 1970er-Jahre Tausende von Cartoons, mit denen Künstler auf köstlichste Weise den Widerstandswillen der Bevölkerung artikulieren. Die Kubaner trotzen den USA und dem Westen nicht zuletzt, indem sie die Imperialisten einfach auslachen. Grund genug für M&R, das Museo del Humor zu einer Gastausstellung in der »Galerie« dieser Ausgabe einzuladen.

Ein weiterer Höhepunkt ist ein Gespräch mit dem marxistischen Literaturwissenschaftler und Philosophen Terry Eagleton über seine Studien zum Humor als Waffe und Antidot gegen Angst − auch vor dem Tod.

Liebe Leser, Sie sehen, Ihnen einfach nur ein bisschen Jux zum Schenkelklopfen anzubieten, das reicht M&R nicht. Daher denken wir nicht daran, Ihnen bei der Lektüre unserer Humor-Ausgabe »viel Spaß« zu wünschen. Nein, Kraft für den Protest gegen die falsche, nach unten tretende »Lustigkeit« des vom Kapital verabreichten Entertainments sollen Sie tanken und den Mut, die Torte in die richtige Richtung zu werfen − mitten in das dumme Gesicht der herrschenden Klasse!

Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R

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