Viele Kampagnen gegen rechts sind mehr Unterschichten-Bashing als Solidarität mit den Flüchtlingen
Johanna Bröse
Solidarität mit geflüchteten Menschen steht derzeit hoch im Kurs. Es wird dringend notwendige Unterstützung durch zahllose Helferhände an Bahnhöfen oder in Erstaufnahmelagern geleistet. Vor allem aber übt sich der »Willkommensweltmeister« Deutschland in einem: Selbstlob. Viele der Hilfsbereiten entdecken – aus ganz unterschiedlichen Motiven – plötzlich ihre Empathie für »den Flüchtling«. Politiker äußern sich öffentlich, und auch Musiker sind deutschlandweit vorne mit dabei – mit ihren Liedern. Flüchtlinge werden zu Konzerten eingeladen, beispielsweise bei den Fanta 4 oder Udo Lindenberg. Lieder werden komponiert (etwa Raoul Haspel: »Schweigeminute (Traiskirchen)«), neu interpretiert (Carolin Kebekus: »Wie blöd du bist«) oder aus der Schublade gekramt (Die Ärzte: »Schrei nach Liebe«, 1993). Die Texte treffen den Nerv des aktuellen Diskurses, »gegen rechts« zu sein. So werden Flüchtlinge öffentlichkeitswirksam zu Werbeträgern einer Gesellschaft, an deren Reichtum sie zu einem Großteil nicht teilhaben werden können – und auch nicht sollen. Sie werden Marionetten einer Politik, die zeigen möchte, dass »wir« heute »die guten Deutschen« sind.
Die meisten umsatzstarken Musiker, die ihre Lieder nun für Flüchtlinge singen, und Boulevardmedien, die wie das Hetzblatt Bild nun plötzlich für »große Hilfsaktionen« trommeln, sind aber vor allem eines: total gleichgültig gegenüber den Kriegen und Krisen, die Menschen weltweit zur Flucht zwingen, die Abschottungs- und Ausbeutungspolitik der westlichen Länder. Und erst recht fühlen sie sich nicht mitverantwortlich für die aufkochende rechte Stimmung, die rassistisch motivierten Ausschreitungen und die brennenden Unterkünfte im ganzen Land.
Dafür verantwortlich sind nämlich die Anderen, die »Intelligenzflüchtlinge«, wie die Entertainer Joko und Klaas es ausdrücken. An sie geht die Botschaft: »Ihr bleibt erbärmliche Trottel« – ähnlich armselig wie die »Arschloch«-Nazis in dem Lied »Schrei nach Liebe«: »Alles muss man dir erklären / Weil du wirklich gar nichts weißt / Höchstwahrscheinlich nicht einmal / Was Attitüde heißt.« Es handelt sich um Unterschichten-Bashing, wie es mittlerweile überall in der Musikbranche zu finden ist: Man wertet sich selbst auf und feiert seine »Toleranz«, während »die da unten«, »die nichts können, nichts wissen und nichts geleistet haben« (Farin Urlaub) wegen ihres vermeintlich selbstverschuldeten niedrigen Bildungsstands verspottet werden und ihnen Rassismus (neben Dummheit, Arbeitslosigkeit und allen möglichen anderen Attributen) als durch eine falsche Einstellung zur Leistungsgesellschaft verursachtes Problem bescheinigt wird. Wenn Carolin Kebekus singt: »Ich schäm‘ mich! / Für all deine Fahnen und deine Narben / Hinter der Mauer, ja in Dresden«, dann passt das zu der Linie der Springer-Presse, die die prekarisierte ostdeutsche Bevölkerung gern pauschal als »dumme Rassisten« identifiziert: Der Fremdenhass wird als »Ost-Problem« – vor allem als DDR-Problem! – an diejenigen abgeschoben, die unter der zunehmenden neoliberalen Wirtschaftspolitik besonders zu leiden haben.
Mit solchen kulturindustriellen Marketingstrategien wird eine 1939 von Max Horkheimer ausgesprochene Wahrheit ideologisch verschleiert, die heute wie damals gilt: »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll über den Faschismus schweigen.« Selbstverständlich sind auch gut betuchte Bürger aus der »Mitte der Gesellschaft« Rassisten (nicht selten finanziert die Upperclass faschistische und andere reaktionäre Parteien und Organisationen). Dass Pegida zu einem erheblichen Teil aus männlichen, miesepetrigen Gut- und Besserverdienern besteht und in den vergangenen Monaten mit ihren fremdenfeindlichen Parolen auf vielen großen Plätzen der Republik aufmarschieren konnte, wird verdrängt. Statt sich mit dieser hässlichen deutschen Tatsache zu konfrontieren, wurde im September in den sozialen Medien die »Aktion Arschloch« propagiert: Kostenlose PR für Die Ärzte (und die Kooperationspartner Amazon, Google & Co., die ihr wegen Union Busting und anderer übler Machenschaften ramponiertes Image dringend aufpolieren müssen), vor allem aber der Versuch, ihr altes Lied wieder an die Spitze der Charts zu bringen – durch eifrige Käufer, die ihr bürgerliches Gewissen beruhigen müssen. Mit Erfolg.
Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 6/2015, erhältlich ab dem 30. Oktober 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.