
Foto: Reuters / Fabrizio Bensch
Ein Kommentar des Schriftstellers Jürgen Roth zu den Feierlichkeiten in der Hauptstadt zum 30. Jahrestag des »Mauerfalls«
Man muss es dem, scheint’s, ewigwährenden Imperialismus lassen: Ihm fällt zuverlässig eine noch monströsere politbetrieblich-kulturindustrielle Abgeschmacktheit ein. Nüchtern gesagt: Den »Rackets« (Adorno) und ihren fürs Klimbim zuständigen parlamentarischen Vollzugsidioten sind Maß- und Stillosigkeit notwendigerweise inhärent.
Waren es vor zehn Jahren noch überdimensionale Dominosteine, die entlang des ehemaligen Mauerstreifens aufgestellt wurden (Symbolik! Umfallen! Umsturz!), feuert der mit den »Mühen der Ebene« (Brecht), mit den Nöten, die eine skandalös eingerichtete materielle Wirklichkeit Tag für Tag in obszönem Maße gebiert, offenbar keineswegs ausgelastete rot-rot-grüne Berliner Senat nun zum 30. Jubiläum des »Mauerfalls« aus sämtlichen, den öffentlichen Raum endgültig flächendeckend versaubeutelnden virtuellen Rohren.
Aufs Prächtigste bewahrheitet sich ein historisches Gesetz, das der Berliner Professor Hegel womöglich so formuliert hätte: Je sinnloser und frecher die (spätest-)bürgerliche Gesellschaft, desto infantiler die von ihr alimentierten Inszenierungen, die die Untertanen, die »Anhängsel« (Adorno) des Bewusstseinskomplexes, bei der Stange halten sollen.
Also haben unsere angeblich linken Öffentlichkeitsdeformationsfunktionäre für zehn Millionen Taler eine »Route der Revolution« ersonnen sowie eine MauAR-App konzipieren lassen, vermittels derer die hochaufgeklärten Smartphone-Hirnis unserer gebenedeiten Tage eine Woche lang durch »Baaliin« strolchen und sich per GPS-Ortung und »Augmented Reality« 3D-Modelle der Mauer in die Rübe pixeln können, freilich aus »verschiedenen Blickwinkeln« (taz), das ist Pluralismus.
Der fetischistische, bildfixierte Simulationskonsumismus hat den Realismus des Gedankens final ersetzt, und schließlich triumphiert – Wim-Wendelin Wenders wackelt mit dem leeren Kopf – »Deine Vision im Himmel über Berlin«, wenn 30.000 von Bürgern eingesandte Botschaften zur »Einheit«, flankiert von »Klang-installationen«, aus dem Firmament voller Quietschgeigen herunterrieseln, gekrönt von einer »Europäischen Clubnacht« mit DJ WestBam. »Öha.« (Gerhard Polt) »Ja, genau.« (Polt) So schaut’s aus. Herrlich.
Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 4/2019, erhältlich ab dem 13. September 2019 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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