Der italienische Futurismus und was von ihm bleibt
Fabian Schwinger
Der Gesang der Zukunft endete mit dem Zweiten Weltkrieg. Als die Musikinstrumente des Futurismus – Luigi Russolos »Intonarumori« – bei Bombenangriffen auf Paris verbrannten und der führende Kopf der Bewegung, der Dichter Filippo Tommaso Marinetti, Ende 1944 am Comer See verstarb, erlitten auch die musikalischen Fantasien der Futuristen zwei so symbolische wie endgültige Rückschläge. Das Futur trug die in Mailand initiierte Bewegung seit dem 1909 von Marinetti verfassten Gründungsmanifest im Namen und sickerte von dort in die Untermanifeste der verschiedenen Kunstgattungen ein. In bilderstürmerischem Furor forderte Marinetti die Loslösung von jeglicher Tradition – »Wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen!« – sowie die leidenschaftliche Ästhetisierung des modernen Großstadtalltags: »Besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen.« Mit seiner Verherrlichung von Geschwindigkeit, Kampf und Krieg, die den Futuristen später den Ruf als »Avantgarde des Faschismus« (Enrico Fubini) eintrug, leistete Marinetti einem energetischen, aggressiven Kunstbegriff Vorschub, dessen Durchsetzung die Gegenwart immerfort dynamisieren, ja geradezu am Kochen halten sollte.
Im Bereich der Musik zeichnete zunächst der Komponist Francesco Balilla Pratella für die Ausrichtung an der Zukunft verantwortlich, auch wenn dessen zwischen 1910 und 1912 im Jahrestakt veröffentlichte Schriften ihren revolutionären Pfeffer durch Marinettis Zugabe erhielten. Wolle die Jugend nicht als Puccini-Dublette enden, dann müsse sie den doktrinären Filz aus Konservatorien, Verlagshäusern und Musikkritik zerreißen. Stattdessen: Freie Studien! Enharmonik! Polyrhythmik! Libretti in freiem Versmaß! Alles Werkzeuge, um »die musikalische Seele der Massen auszudrücken, der großen Industrieanlagen, der Züge, Transatlantikkreuzer, Panzerschiffe, Automobile und Flugzeuge« – und auch von der »Herrschaft der Maschine und dem sieghaften Reich der Elektrizität« habe die Musik zu sprechen. Pratellas musikalischer Output inspirierte den gelernten Maler Russolo, die Emanzipation des Klangs im Rahmen einer theoretisch fundierten »Kunst der Geräusche« voranzutreiben, die er mit einem schnell anwachsenden Orchester selbstgebauter Geräuschtöner, eben jener Intonarumori, in launige Praxis überführte. Nach der Premiere des Orchesters 1914 führten Konzerttourneen im In- und Ausland zu tumultartigen Szenen im Zuschauerraum sowie anerkennendem Schulterklopfen unter den Kollegen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges machten sich zwischen dem Kreis um den kriegsverherrlichenden Marinetti und gemäßigten Kollegen aus Florenz erste Spannungen bemerkbar. Auch wenn die Bewegung der Futuristen erst mit Italiens Eintritt in den Zweiten Weltkrieg endgültig versiegte, so hat die zweite Generation von Futuristen – darunter Franco Casavola, Silvio Mix und Nuccio Fiorda –, die die Bewegung ab den 20er-Jahren für Jazz und synästhetische Experimente öffnete, nie die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie ihre Gründer.
Mehr als hundert Jahre nach der Ausrufung des musikalischen Futurismus regt seine Geschichte zum Nachdenken darüber an, wie sich ein gedanklich abstraktes Konzept wie »Zukunft« überhaupt in Klängen offenbaren kann. Welche Vision von Zukunft beschworen die Futuristen mit ihrer Musik? Oder, allgemeiner gefragt: Besitzt Musik überhaupt eine prophetische Gabe, dass sie uns von Kommendem erzählen kann? Eine Frage, die auf die musikphilosophischen Ausführungen Ernst Blochs verweist, deren früheste Konkretisierung zufällig in die Wirkungszeit der Futuristen fällt (»Geist der Utopie«, 1918). Bloch macht in aller Musik ein antizipatorisches Moment aus, das als noch nicht verwirklichte Hoffnung auf Zukünftiges verweist: »Unter den Künsten führt Musik einen ganz besonderen Saft, tauglich zur Zitierung jenes noch Wortlosen.« Es ist der prozessuale Charakter der Musik, ihre Realisierung im zeitlichen Verlauf, denen Bloch besondere Aufmerksamkeit schenkt. Weil er im musikalischen Ausdruck immer auch einen menschlichen erkennt, erblickt er im Werden der Musik den seiner Verwirklichung entgegenstrebenden Menschen. Im klanglichen, mit einer spezifisch temporalen Qualität ausgestatteten Gebilde nistet nach Bloch’scher Vorstellung immer auch utopisches Potenzial.
Mit solchen Utopien, Nicht-Orten allerdings hielten sich die damaligen Futuristen nicht lange auf. Die Verwirklichung der Zukunft, die sie im Namen trugen, stand immer kurz bevor. So leicht, wie man sich von der Vergangenheit verabschieden zu können meinte, so pragmatisch verfuhr das futuristische Programm mit dem Entern der Zukunft: Ihre Erfüllung fand sie in der radikalen Intensivierung der Gegenwart, in der künstlerischen Apotheose der in voller Blüte stehenden Industriegesellschaft. Doch so elegant der Schritt in die Zukunft auch auf dem Papier gelang – musikalisch ging der Transfer holpriger vonstatten. Wenn die Zukunft den Futuristen vor allem Neuheit bedeutete – und diese Denkweise deutet sich in Pratellas »Technischem Manifest« (1911) an: »Alle Neuerer sind in Bezug auf ihre Zeit logischerweise Futuristen gewesen.« –, dann zeigte sich in den anfänglichen Werken der Futuristen, dass radikale Neuerung trotz guter Absichten nicht so einfach zu bewerkstelligen war. Pratella schuf mit seiner Oper »L’aviatore Dro« (Der Flieger Dro) von 1914 zwar ein neues Sujet, blieb zugleich aber einer ziemlich klassischen Klangsprache verhaftet. Russolo umgekehrt erfand zwar ein Instrumentarium neuartiger Klänge, verwendete diese aber konventionell im Sinne von Lautmalereien – was schon aus Titeln wie »Convegno d’automobili e d’aeroplani« (Treffen der Autos und der Flugzeuge) hervorgeht. Nein, die Zukunft, die der Futurismus für die Musik ersonnen hatte, sollte sich in ihrer Tragweite erst für Komponisten der Nachkriegsgeneration offenbaren, als der Einbezug von Technologie, von Geräusch und Mikrotonalität zu grundlegenden ästhetischen Paradigmen avancierten.
Und heute? Die Errungenschaften der Moderne, an denen sich die Visionen der Avantgarde entzündeten, haben Patina angesetzt. Computer werden als Bedrohung humanitärer Lebenswelten erkannt, das ehemalige Mekka der Automobilindustrie verrostet an den Ufern des Eriesees, die »Lichter der Großstadt« mussten längst Shopping-Malls weichen, und Geschwindigkeit liefert im Zeitalter des Turbokapitalismus keinen Genuss mehr, sondern ist Stressfaktor, dem mit Entschleunigungsstrategien begegnet werden muss. Nachbauten von Russolos Intonarumori – erst im Januar konnte man Rekonstruktionen des Klangkünstlers Wessel Westerveld in Berlin erleben – erfreuen vor allem die Bastler-Fraktion … Und doch können Referenzen auf den historischen Futurismus auch heute noch ungeahnte Perspektiven eröffnen: So lieferte Aldo Palazzeschi mit seiner Erzählung »Il codice di Perelà« (1911) dem französischen Komponisten Pascal Dusapin die Vorlage für dessen Oper »Perelà« (2003) über einen Mann aus Rauch, der im Schornstein geboren wird und als Sensation reüssiert, bis die euphorische Selbstverbrennung eines »Fans« die Stimmung kippen lässt und er zum Tode verurteilt wird. Vergangenes Jahr feierte die Deutsche Erstaufführung am Staatstheater Mainz ungeahnte Erfolge. Und auch im Werk des 1976 in Moskau geborenen Komponisten Dmitri Kourliandski blitzt das ästhetische Erbe der Futuristen noch einmal auf. Im Ensemblewerk »Contra-Relief« (2005) übersetzt er Tatlins Monument für die 3. Kommunistische Internationale unter Einsatz von Sirenen, Bohrmaschinen und Ambossen in eine musikalische Form. »Mich interessiert das Mechanische in allen Erscheinungsformen«, meint Kourliandski – und schränkt ein: »Aber ich empfinde nicht die Begeisterung, die die Maschinen bei Künstlern am Anfang des 20. Jahrhunderts hervorriefen.« Die Zukunft hat sie eingeholt.
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 2/2016, erhältlich ab dem 26. Februar 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.