Sie müssen nur sehr alt werden
Im Alten Testament gibt es eine endlose Auf listung alter, sehr alter und steinalter Männer (und einiger Frauen, die entweder in die Wüste gejagt, vergewaltigt oder inzestuös wurden). Die EU, die sich sehr innig zu ihren christlichen Wurzeln bekennt, hatte offenbar das Alte Testament vor Augen, als sie folgendes auf die Tagesordnung setzte: Voraussichtlich im Mai soll über eine Verlängerung des Urheberschutzes bei Musikwerken auf – Achtung, Trommelwirbel und kurze Pause – 70 Jahre entschieden werden. Bisher gelten juvenile 50 Jahre.
Die 70 Jahre werden von der EU als Kompromiss gefeiert. Ursprünglich war eine Verlängerung auf – Achtung, Trommelwirbel und Fanfare, kurze Pause – 95 Jahre geplant.
Selbstverständlich sorgt sich die Europäische Kommission ausschließlich um das Wohl von tausenden Musikern, die nach Ablauf der 50 Jahre schlagartig in Not und Elend fallen würden. Ein One-Hit-Wonder, das mit 25 Jahren einen Ohrwurm komponierte, müsste im 76. Lebensjahr Hartz IV beantragen. Das kann nur jemand wollen, der sein Herz beim Holländer-Michel gegen einen Stein getauscht hat. Dank der EU verdient der Musiker nun Geld, bis er 95 ist.
Mit der eigentlich geplanten Verlängerung könnte er sogar 120 Jahre alt werden, bevor sein Hit gemeinfrei wird. 120 Jahre sind ein durchaus biblisches Alter, im realen Leben aber sehr selten. Andere Zahlen sind interessanter: 1963 und 1964. 1963 veröffentlichten die Beatles ihre erste Schallplatte, 1964 die Rolling Stones. 2013 und 2014 wären diese Songs frei, und dann würde Jahr für Jahr eine weitere Platte folgen, ebenso bei den Kinks (2014), bei Pink Floyd (2017), Led Zeppelin (2019) oder Black Sabbath (2020). Ein Albtraum für die Musikindustrie, die mit diesen tausendfach amortisierten Aufnahmen mehr Geld verdient als mit einem Atomkraftwerk.
Mit der 70-Jahre-Regel werden übrigens auch Titel eingefangen, die nach 50 Jahren aus der Urheberrechtsfalle entwichen waren. Bei Elvis Presleys »Hound Dog«, »Blue Suede Shoes« und »Love Me Tender« lief die Frist 2006 ab. Ab 2011 gehört die Musik wieder den Rechteverwertern, bis 2026. Dann kann man noch mal über einen Nachschlag bis 2051 reden.
Jürgen Winkler
Der Beitrag erscheint in der melodie&rhythmus 3/2011.