Melodie & Rhythmus

Mechanismen der Verdrängung

26.04.2016 15:14
Erich-Schulze-Brunnen vor der Münchner GEMA-Zentrale Foto: Peter Kneffel / DPA

Erich-Schulze-Brunnen vor der Münchner GEMA-Zentrale
Foto: Peter Kneffel / DPA

Das Musiktheaterwerk »Speere Stein Klavier« beleuchtet die deutsche Vergangenheit – Vorüberlegungen des Komponisten

Genoël von Lilienstern

In unmittelbarer Nähe zum Münchner Gasteig, in dem unser Musiktheater »Speere Stein Klavier« im Juni uraufgeführt wird, befindet sich die Zentrale der GEMA, ein Klinkerbau aus den 1980ern. Vor dem Haupteingang erhebt sich eine sieben Meter hohe, stilisierte Messingposaune: der Erich-Schulze-Brunnen. Schulze baute die Institution nach dem Krieg wieder auf – mit Wissen, das er in der Vorgängerorganisation STAGMA im NS-Staat erworben hatte. Der vom Brunnen ausgehende Wasserlauf wurde nie umgesetzt, weil das Vorhaben mit einer anderen Gedenkbestrebung, der für den Hitler-Attentäter Georg Elser, kollidierte. Wo heute Gasteig und GEMA stehen, befand sich bis in die späten 70er-Jahre der Bürgerbräukeller. 1939 zündete dort Elsers Bombe – die Stelle des Pfeilers, in dem Elser sie versteckte, ist mit einer bescheidenen Bodenplakette markiert. Erinnerungskultur macht so bis heute gültige Kräfteverhältnisse sichtbar: hier der idealistische, allein handelnde Freiheitskämpfer Elser, dessen Todesurteil 1945 vollstreckt wurde, dort Erwin Schulze, »Unser General« (Werner Egk), Vorsteher einer mächtigen Institution, Netzwerker von Goebbels Gnaden.

In unserem Stück gehen wir – Christian Grammel (Regie), Elisabeth Tropper (Dramaturgie), Yassu Yabarra (Bühne/Kostüme) und ich – solch merkwürdigen historischen Harmonien und Dissonanzen nach. Zwei Jahre lang haben wir eine Sammlung von Schellackplatten, LPs, Dokumenten, Kunstgegenständen und Filmausschnitten aus dem faschistischen Deutschland und Nachkriegszeit zusammengetragen: »Lebe wohl, du kleine Monika!«, Hans Carstes militaristischer Durchhaltemarsch von 1940, steht dort neben der ebenfalls von ihm komponierten Tagesschau-Fanfare; Heintjes »Mama« ist die infantilisierte Version eines Schlagers, der vormals »Mutter« hieß und dem gleichnamigen, Blubo-Ideologie propagierenden Film von 1941 entstammt … Auch im Musikleben griffen nach Kriegsende Mechanismen von Verdrängung, Beschönigung, Umdeutung ineinander. Jene, die Teil der alten Seilschaften waren, halfen sich gegenseitig, ihre Westen reinzuwaschen – um, wie Ralph Maria Siegel, weiter König der Schlagerproduzenten zu bleiben. Für die breite Masse wurde jene schon im Krieg angeschobene Produktion ultraseichter Unterhaltung fortgeführt. Der schmalzige Tonfall des Schlagers, der klamaukige Stil der Nachkriegskomödie, die heimelige Gemütlichkeit des Partykellers bildeten den Stoff, mit dem Bombennächte, Massenmord und schlechtes Gewissen überkleistert wurden. Warum ist das Eingestehen und die kritische Reflexion von persönlichen Fehlern so schwierig gewesen? Hätte darin nicht die Möglichkeit gelegen, sich Erleichterung für das Gewissen zu verschaffen? Auf der Bühne werden Schauspieler und Sänger mit den gesammelten Objekten umgehen. Sie setzen sich ihnen aus, leiten Handlungen aus ihnen ab. Als Komponist reagiere ich auf die musikalischen Quellen im Sinne archäologischer Fundstücke.

Ich verstehe sie als das Sediment einer Zeit, in welchem sich Konventionen, Emotionen und Spuren von Machtverhältnissen abgelagert haben. In meinem Labor kann ich Proben aus diesem Sediment synthetisieren, Kopien mit leicht veränderten Eigenschaften herstellen, um zu sehen, welche Wirkungsmechanismen Musik besitzt. Ich kann Wagner’sche Harmonik zu seinen eigenen polemischen Schriften setzen, HJ-Märsche von Werner Egk übereinanderlegen, Carl Orff transponieren oder meine eigenen trivialen Nachkriegsschlager dichten. Einer institutionalisierten Gedenkkultur steht für mich immer noch die schwer greifbare emotionale Dimension des durch Faschismus und Krieg erlebten Leids (der Opfer, aber auch der Angehörigen der Täter) entgegen. Das ist auch in meiner eigenen Familie immer noch Thema. Zu untersuchen, wie Mechanismen der Verdrängung bis heute wirksam sind und wie Traumatisierungen auf eigenartigen Umwegen zutage treten können, ist die maßgebliche Motivation unserer Auseinandersetzung.

Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 3/2016, erhältlich ab dem 29. April 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

Vorstellungen
Theater Augsburg, Kennedy-Platz 1, 86152 Augsburg
So, 05.06.2016
Mo, 06.06.2016
Mi, 08.06.2016
Mi, 06.07.2016
Mi, 13.07.2016

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