Wie das emanzipative Versprechen der Menschenliebe zur Lüge deformiert wurde
Olaf Matthes
Die Pauken donnern. Die Streicher drohen. Der Bariton unterbricht sie: »O Freunde, nicht diese Töne!« Er mahnt zur Einigkeit und Harmonie, der Chor stimmt ein: »Alle Menschen werden Brüder« und »Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!« Für den vierten Satz seiner 9. Sinfonie hat Ludwig van Beethoven Friedrich Schillers Gedicht »An die Freude« von 1785 vertont und damit der großen Hoffnung einer universellen Menschenliebe, der Perspektive einer Welt der Solidarität Ausdruck verliehen.
Die ersten Takte des ersten Satzes der 9. Sinfonie, schrill und dissonant. In dem Film »Ludwig van« von 1970 lassen Mauricio Kagel und Joseph Beuys dazu Rauch aus einem Gullydeckel aufsteigen, als wäre die Musik ein stinkendes Abgas. Dieser Beitrag zum damaligen Beethoven-Jahr diskutiert die Frage: »Warum wird Beethovens Musik missbraucht?« Über dem Gully ist plötzlich der Deckel eines Bräters zu sehen und kein Rauch mehr. »In der Karikatur wird deutlich, welcher Schatz uns verloren ging«, schreibt die Musikjournalistin Eleonore Büning zu der Szene. An die 9. Sinfonie habe sich eine schwere »Bedeutungsschicht angelagert«, die bestimmt, wie wir das Werk hören. EU-Hymne oder Flashmob-Kommerz: Wie wir das Thema von »Freude, schöner Götterfunken« geboten bekommen, legt nahe zu sagen: nicht diese Töne.
Um zu belegen, wie weltoffen und menschenfreundlich der Kapitalismus oder wie »divers« die EU ist, quillt Beethovens Freuden-Melodie aus allen Boxen – wie in »Ludwig van« der Rauch aus dem Gullydeckel. …
Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 4/2021, erhältlich ab dem 17. September 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.