Melodie & Rhythmus

Zeichen der Freiheit

15.06.2021 14:20
Léon Comerre / wikimedia.org / public domain

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Warum die Emanzipation des Menschen ohne den revolutionären Kampf gegen die zerstörerische Herrschaft des Kapitals über die Natur nicht zu haben ist

Ulrich Ruschig

Die Sorge um die unterjochte Natur ist in aller Munde. Angesichts von Artensterben, Massentierhaltung und Klimawandel geben sich Politiker, die bislang die vom Kapital bewirkten Zerstörungen mit flankierenden Maßnahmen begleiteten, als geläutert und plädieren für einen grünen Kapitalismus – also dafür, zum Nutzen von ›Mensch‹ und ›Natur‹ ›Ökologie‹ und die herrschende ›Ökonomie‹ miteinander zu vereinbaren. Allein die kapitalistische Wirtschaftsweise sei in der Lage, das zum Guten zu wenden, was sie selbst bisher angerichtet hat. Doch der Kapitalismus könnte nur dann ernsthaft als Weg zur Rettung der Natur vor ihrer endgültigen Zerstörung angepriesen werden, wenn die bereits erfolgte Zerstörung als ein zufälliges, nicht dieser Wirtschaftsweise geschuldetes Unglück zu begreifen wäre. Wahr hingegen ist, dass sie durch im Strukturkern der kapitalistischen Produktionsweise liegende Ursachen bewirkt wurde. Radikale Opposition fordert, die Natur von der Herrschaft des Kapitals zu befreien. Doch soll ›Befreiung der Natur‹ ein vernünftiges Ziel sein, muss erst einmal nachgewiesen werden, dass die Natur beherrscht wird. Ist die Natur als ein beherrschtes Subjekt aufzufassen, dem ein ihm fremder Wille aufgezwungen wird?

Natur und Freiheit – eine Antinomie

Auf die Frage, was Natur ist, antworten vornehmlich Physik und Chemie: Die Gegenstände der Natur bestehen aus Atomen und Molekülen, bestimmt durch Masse, Kräfte, Energie etc. Den Gesetzen der Naturkausalität folgend, können wir an einem Schwefelkristall dessen Eigenschaften und Reaktionen erkennen. ›Freiheit‹ kommt in ihm nicht vor. Doch es gibt auch Naturwesen, denen wir Freiheit zusprechen. Wollen wir solche Freiheitswesen verstehen, müssen wir eine gänzlich andere Kausalität annehmen, eine »absolute Spontaneität« oder eine »Kausalität aus Freiheit«, wie Kant es nannte. Beide Kausalitäten – erforderlich, um die Naturprozesse insgesamt und besonders die vernunftbegabten Naturwesen zu verstehen – widersprechen einander. Da sie in ihren Begründungen aufeinander angewiesen sind, ergibt sich eine Antinomie. Kant löst sie – und kann (nur) so verstehen, warum wir Menschen Naturwesen und zugleich Freiheitswesen sind. In dem Begreifen, dass und wie Natur und Freiheit durcheinander vermittelt sind und im Menschen zusammen bestehen, liegt ein Fortschritt. Allerdings geht dieser damit einher, dass Pflanzen und Tiere aus einer solchen Vermittlung von Natur und Freiheit herausfallen. Beiden komme, so Kant, Kausalität aus Freiheit nicht zu. Damit sind sie Sachen, determiniert durch die Kausalität nach Gesetzen der Natur. Daraus resultiert eine folgenschwere Dichotomie: Allein der Mensch habe eine Würde; Tiere und Pflanzen hätten keine, sondern nur einen Preis. …

Ulrich Ruschig lehrte als Professor für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg. Er veröffentlicht zu den systematischen Grundlagen der Naturwissenschaften, zu Kant, Hegel und Marx sowie zur Kritischen Theorie. 2020 erschien im Papyrossa Verlag seine Abhandlung »Die Befreiung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse«.

Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 3/2021, erhältlich ab dem 18. Juni 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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