
Illustrationen: gemeinfrei / Imago Images / United Archives International / Leemage
Warum machen Esoterik, Okkultismus und Wahn regelmäßig Karriere? Unter anderem, weil Krisen und Geheimdienste nachhelfen
Arnold Schölzel
Als sich in der Bundesrepublik die außerparlamentarische Opposition zur Protestbewegung formierte, veröffentlichte der Fischer-Taschenbuchverlag im September 1966 den Band »Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik« des ungarischen Marxisten Georg Lukács. Im Vorwort erläuterte der Autor historisch-materialistisch: Jede reale Alternative des Lebens werde zwar »von der objektiven geschichtlichgesellschaftlichen Entwicklung gestellt«, stets aber sei er sich darüber im Klaren gewesen, »dass nie eine Alternativentscheidung gefällt wird, bei der die Weltanschauung der Beteiligten einflusslos geblieben wäre«. So sei die Zahl derjenigen, die Schopenhauer, Nietzsche oder Heidegger gelesen hätten, »verschwindend gering«. Dennoch sei ein »Popularisierungsprozess« durch Sekundärliteratur und Medien zu beobachten. Daher widme er sich dem Irrationalismus.
Die Geschichte der Dialektik von objektiven und subjektiven Faktoren, die Lukács beschäftigt, ist fürs nachrevolutionäre Bürgertum noch nicht geschrieben. Franz Mehring, Lukács, der Dichter Peter Hacks und der 2018 verstorbene italienische Philosoph Domenico Losurdo haben wahrscheinlich die wichtigste Vorarbeit dafür geleistet. Das Ergebnis ihrer Untersuchungen lautet im Groben: Die Daseinsweise des Bürgertums nach Napoleon ist der ideologische Katzenjammer, denn es hat seine Revolutionen entweder gegen die Reaktion verloren oder, wie in Deutschland, vergeigt, weil es im 19. Jahrhundert bereits die Revolution des Proletariats, im 20. Jahrhundert die Sowjetunion und deren Ausstrahlung auf die Kolonien fürchtete. Dieses Bürgertum geht von Aufklärung, philosophischem Idealismus und literarischer Klassik zum Konservatismus, zu den alten Kirchen und den neuen Ersatzreligionen über, erfand Mitte des 19. Jahrhunderts den biologistischen Rassismus, speziell den modernen Antisemitismus, befasst sich intensiv mit Spuk, und vor allem wird es misanthropisch. In einem Sklavenhalterstaat wie den USA schlug sich das schon vor dem Imperialismus in Völkermord nieder; ab 1900, im Zeitalter des Monopolkapitalismus, ist der Faschismus in allen imperialistischen Staaten eine mögliche Herrschaftsvariante.
Die Bekämpfung von Vernunft ist insofern nicht nur ein psychisches Problem dieser oder jener Figur – Wilhelm II., Hitler oder Trump –, sondern Ausdruck von Irrealität einer politischen Strategie. Das Streben der USA oder Deutschlands nach Weltmacht nach dem Beispiel des britischen Empires im 19. Jahrhundert hat keinen Funken von Realitätsbezug.
…
Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2021, erhältlich ab dem 19. März 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
Ähnliche Artikel:
