Kolumne Klassendramatik

Das Performancekollektiv She She Pop mit »Kanon«
Foto: Dorothea Tuch
20 Jahre »Postdramatisches Theater« von Hans-Thies Lehmann
Immer wenn ich eine postdramatische Aufführung besuche, ergreift mich ein eigenartiger Verdacht. Habe ich mich verlaufen? Ich sehe kuriose Bewegungen, etwas zwischen Geste und Tanz, aber doch nichts von beidem. Dann höre ich einen gekauderwelschten Text in einem Atemzug runtergerattert. Am Ende brüllt der Sprecher. Applaus. Wofür? Für die athletische Höchstleistung seiner Zungenmuskeln? Es folgt ein Diskurs, der an Seminare in der Universität erinnert. Ohne Praxis, ohne Realität, außerweltlich. Aus dem Hintergrund tritt eine Person hervor. Zittrige Unsicherheit ist ihr ins Gesicht geschrieben. Schamvoll erzählt sie von ihrem Leben. Man hat Mitgefühl. Gleichzeitig ist eine Nahaufnahme von der Person auf einer Leinwand zu sehen. Die Blicke bohren sich in jede Pore ihres Gesichts. Tenor: Jetzt untersuchen wir die Arbeiterin. Sie stellt sich als Reinigungskraft vor. Sie ist eine Expertin des Alltags, die mir wenig über dessen Zusammenhänge zeigen kann − weil sie den Alltag verkörpert. Sie ist Schau des Alltags. Wenn der Bildungsbürger nach Hause geht, soll er sagen dürfen: Seht ihr, ich höre den einfachen Leuten zu.
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Mesut Bayraktar ist Gründer der Zeitschrift Nous – Neue Literatur. Neben Erzählungen und Theaterstücken schreibt er Essays, Literatur- und Theaterkritiken für diverse Zeitungen und Zeitschriften. 2018 sind seine Erstlingswerke, das Drama »Die Belagerten« und der Roman »Briefe aus Istanbul«, erschienen.