Melodie & Rhythmus

Krückenpartei

15.06.2021 14:29

Die Grünen

Henning Venske Stahlpress Medienbüro Hamburg

Henning Venske
Stahlpress Medienbüro Hamburg

Eine Polemik von Henning Venske

Kaum zu glauben, aber es gab ein Leben vor Annalena – ein Gegenmilieu zu den Parteien, eine linksalternative, kapitalismuskritische Szene: die Anti-AKW- und Friedensbewegung, Umweltinitiativen und Feministinnen, Hausbesetzer und so weiter. Klar, dass da Mitte der 1970er-Jahre die Idee aufkam, eine Anti-Parteien-Partei zu gründen: Befürworter waren der Ansicht, es sei sinnvoll, das Protestpotenzial im Parlament zu bündeln; Gegner sprachen vom Ausverkauf der bunten Wehrt-euch-Agenda.

Damals auf dem Gründungsparteitag, elf Monate vor Annalenas Geburt, prophezeite ein argwöhnischer Delegierter: »Sägt euch doch nicht das linke Bein ab – ihr wisst doch gar nicht, wie die Krücken aussehen, mit denen ihr uns davonhumpeln wollt.« Das Krückenargument zog nicht, die sogenannten Ökopaxe gründeten ihre Partei – ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei, aber mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss gegen Kommunisten. Das war die erste Krücke. Die zweite hieß »Anpassung«. Dabei kamen die an den außerparlamentarischen Bewegungen orientierten Ökosozialisten, »Fundis« genannt, unter die Räder. Die Erinnerung an sie ist mittlerweile entsorgt. Die auf Regierungsbeteiligung fixierten »Realos« aber humpelten mithilfe der Krücken »Ideologie – nein, danke!« und »Beziehungen knüpfen« weiter Richtung bürgerliche Akzeptanz. Allgemeiner Konsens: lange Haare ja, aber gepflegt müssen sie sein.

Grüner Gestaltungswille personifizierte sich in einem gewaltbereiten und machtbewussten Exsponti, der es fertigbrachte, Auschwitz für den von ihm mitverantworteten Jugoslawienkrieg zu instrumentalisieren. Seitdem stehen auch ehemalige Pazifisten keinem Waffenhandel mehr im Weg und stimmen, gestützt auf die Krücken »Macht« und »Kontrolle«, Bundeswehr-Einsätzen in Kriegsgebieten zu.

Zügig kanalisierten die Grünen jeden bunten Widerstand in parlamentarisch etablierte Bahnen, bis es so weit kam, dass eine Exbundessprecherin der Grünen im Management der Gelsenwasser AG anheuerte. Die Krücken hießen nun »Professionalisierung« und »Medienpräsenz«. Stromlinienförmig hielt der bedeutendste Dosenpfandminister aller Zeiten die Castor-Atommülltransporte für juristisch unabwendbar und Protestaktionen dagegen für falsch. Die einst angestrebte Umverteilung von oben nach unten holte der Wachtelkönig, und der Widerstand gegen Hartz IV und die Agenda 2010 wurde im nächsten Feuchtbiotop verklappt.
Die Krücken »Sozialabbau« und »Profitstreben« waren fortan unverzichtbar, und damit Deutschland im Globalisierungswettlauf wirtschaftlich nicht abgehängt wird, ersetzten die Grünen Kapitalismuskritik durch neoliberales Marktwirtschaftsgezeter: Massentierhaltung und Fleischindustrie durften weiterwursteln, Kohlekraftwerke waren in Ordnung, wenn sie zur Regierungsbeteiligung führten, Industriebetriebe wurden subventioniert, auch wenn sie einerseits Kurzarbeit verfügten und andererseits den Aktionären obszöne Dividenden zuschoben, und ein bundesweiter Mietendeckel soll vielleicht eher lieber nicht kommen.

Sowohl der Regierung wie auch der Opposition anzugehören, erhöht die Glaubwürdigkeit – man humpelt immer dynamischer, und die Krücken dafür heißen »Populismus« und »Fortschrittsgläubigkeit«. Im TV-Talkshow-Karussell heißt es: voller Einsatz für Nawalny, kein Einsatz für Assange oder Snowden, geschweige denn Sanktionen gegen die USA. Gespannt wartet das Volk darauf, dass die grüne Parteiführung einen Russland-Feldzug proklamiert – klimaneutral mit Solarpanzern.

Die Grünen haben alle ehemals rebellischen Gedanken eliminiert. Sie sagen nichts mehr, was man hinterher nicht richtigstellen kann, und Annalena erklärte den 1.-Mai-Demonstranten via Bildzeitung: »Barrikaden anzuzünden und gewaltsam auf Polizistinnen und Polizisten loszugehen, ist kriminell und in keinster Weise akzeptabel.« Dafür wäre sie vor ihrer Zeit aus der Frauengruppe ausgeschlossen worden.

Zum Glück besteht ihre Wählerschaft heute aus Besserverdienenden, die sich vor allem gegen No-go-Wörter und für Gendersternchen einsetzen. Für diese Klientel hat Annalena schon die passenden Krücken im Angebot: »Versprechen« und »Vergessen«.

Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 3/2021, erhältlich ab dem 18. Juni 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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