Melodie & Rhythmus

Ende des Schweigens

23.06.2020 14:04
Foto: Picture Alliance / Everett Collection

Foto: Picture Alliance / Everett Collection

Der chilenische Regisseur Patricio Guzmán über seinen neuen Film »Die Kordillere der Träume« und die neue linke Protestbewegung in seinem Land

Interview: Dror Dayan

Patricio Guzmán gilt als Großmeister des politischen Dokumentarfilms. In den Jahren 1972 bis 1979 drehte er seine berühmte Trilogie »Die Schlacht um Chile« über die dramatischen Ereignisse vor und nach der Wahl Salvador Allendes, den Militärputsch 1973 und die Folgen. Nachdem Pinochet an die Macht gelangt war, wurde Guzmán verhaftet; später lebte er im Exil zunächst in Kuba, danach in Spanien und Frankreich. Bis heute widmet er einen Großteil seines vielfach preisgekrönten Filmschaffens der Aufarbeitung der Diktaturzeit in seiner Heimat und den Traumata, die sie hinterlassen hat. M&R sprach mit Guzmán anlässlich des Kinostarts von »Die Kordillere der Träume« über die Entstehung seines neuen Films, die Kraft der Poesie und die Hoffnungen, die er in die gegenwärtigen Massenproteste in Chile setzt.

Herr Guzmán, in Ihrer »Trilogie zur Heimat« schildern Sie die Geschichte der Diktatur in Chile und die kollektive Amnesie mit poetischen Mitteln. Mit dem letzten Teil, Ihrem neuesten Werk »Die Kordillere der Träume«, haben Sie aber einen Film gemacht, der auch dokumentarische Archivbilder des Widerstands und der Repression aus der späteren Juntazeit enthält. Reichen Ihnen Metaphern und Poesie nicht mehr als gestalterisches Mittel aus?

Alle Filme meiner Trilogie sind durch das Thema Erinnerung miteinander verbunden. Im ersten, »Heimweh nach den Sternen«, geht es um die Wüste, in »Der Perlmuttknopf« um das Meer, und jetzt sind wir an der Anden-Gebirgskette, der Kordillere, angelangt. Ich verwende diese drei geografischen Elemente, um über Erinnerung und die Diktatur zu sprechen. Literarisch ausgedrückt, ist aber die Gebirgskette massiver und härter als die anderen beiden Elemente: Sie ist als Naturerscheinung dramatischer und braucht deshalb eine direktere Sprache. Vielleicht ist dieser Film deswegen auch trauriger als die anderen. Die Kordillere steht auch in einem viel direkteren geografischen Bezug zur Großstadt Santiago de Chile, die ein bisschen wie ein Schlachtfeld ist, in der die Verhältnisse auch sehr komplex und hart sind – das war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten schon so, allemal jetzt in der Coronakrise.

Mit dieser Symbolsprache changiert Ihr Film mühelos zwischen Persönlichem und dem Politischen, Konkreten und Abstrakten. So zeigen Sie uns neben Landschaftsaufnahmen von Gebirgen und Archivbildern von Akten staatlicher Repression auch das heute verlassene Haus, in dem Sie in Ihrer Kindheit gelebt haben. Wovon lassen Sie sich leiten, wenn Sie diese scheinbar unterschiedlichen Fragmente in einen Film miteinander verweben?

Wenn ich über die Kordillere spreche, erinnere ich mich unweigerlich an meine eigene Kindheit. Während der gesamten Zeit meines Erwachsenwerdens hatte ich diese Bergkette quasi immer vor Augen – wie eine Nahaufnahme von meinem Geburtsort. Diese verschiedenen Sphären sind also für mich untrennbar miteinander verbunden. In meinem nächsten Film werde ich wahrscheinlich die Massenproteste reflektieren, die seit letztem Oktober in meinem Land stattfinden. In diesem Fall wird es nicht um eine Bergkette gehen, sondern um das, was man vielleicht sogar eine kleine Revolution nennen kann. Aber immer, wenn ich einen Film über Chile mache, ist das ein persönliches Projekt, und ich werde dabei von eigenen Erfahrungen und meinem persönlichen Standpunkt inspiriert. Ich bearbeite das Material auch ganz anders, als wenn ich beispielsweise einen Film über Bolivien machen würde.

Braucht man das Metaphorische und Poetische, um das Grauenvolle besser verstehen und verarbeiten zu können?

Selbst wenn ich es nicht erzählen wollte, würde ich Metaphern und Poesie einsetzen. Denn der Dokumentarfilm kann ohne diese Sprache nicht auskommen – das ist der Unterschied zwischen einem Autorendokumentarfilm und einer Reportage über ein bestimmtes Thema. Es ist für mich immer sehr wichtig, mit Poesie und Metaphorik zu arbeiten und daran die Erzählstruktur des Films und dessen Sprache zu entwickeln.

Die Erzählstruktur Ihrer »Heimat«-Trilogie wird auch durch Interviews mit Künstlern und Wissenschaftlern vorangetrieben, die Sie dann zu einem filmischen Mosaikbild Chiles montieren. Wie ist der kreative Prozess verlaufen? Wie viel davon ist Ihnen vorher schon bewusst, und wie viel entdecken Sie während Ihrer Arbeit?

Im Prinzip sind die Menschen, die ich filme, sehr unterschiedlich und haben auch ihre ganz eigenen Meinungen in den Diskursen. Manchmal denkt man, es wäre vielleicht besser für das Werk, sich Spezialisten zu suchen, die sich mit den verschiedenen Themen besonders auskennen. Aber mir haben alle Spezialisten, die ich interviewt habe, zum Beispiel welche für Geografie oder speziell Bergketten, letztendlich nichts Wesentliches vermitteln können – also nichts Substanzielles für den Film, den ich machen wollte. Die wichtigsten Impulse kamen eigentlich alle von Künstlern – von Malern, Bildhauern und meinen Filmemacherkollegen. So habe ich sechs oder sieben Personen getroffen, die schließlich auch im Film vorkommen. Und weil es in der Summe dann doch nicht so viele waren, die an der Konstruktion des Films beteiligt waren, habe ich noch mich selbst als Person eingeführt und über mein eigenes Leben gesprochen. Und das war dann das Ergebnis. Vielleicht wirkt der Film auch deshalb persönlicher als meine vorherigen Werke.

Noch ein Unterschied zu den beiden anderen Filmen der Trilogie, in denen es politisch hauptsächlich um die Zeit des Pinochet-Putsches geht, ist, dass Sie den weiteren Verlauf der Geschichte Ihres Landes zeigen: vom Umbau Chiles durch die »Chicago Boys« in den 70er-Jahren über den Widerstand und die Repression in den 80ern bis zu den extremen Klassenwidersprüchen und Ausbeutungsverhältnissen von heute. Als ein Symbol für diese ungebrochene neoliberale Kontinuität haben Sie das Kupfer gewählt, das von transnationalen Großunternehmen in Chile abgebaut und im Ausland vermarktet wird.

In der Nähe von Santiago gibt es zwei große Kupferminen. Sie sind gigantisch groß und nur 30 Kilometer von der Stadt entfernt; sie liegen genau gegenüber, nur hinter der Bergkette versteckt. Man kann also gar nicht über Santiago sprechen und diese Minen ausblenden, sie gehören einfach dazu. Leider konnte ich für meinen Film nur in einer davon Aufnahmen machen – es ist sehr kompliziert, Drehgenehmigungen für die Minen zu bekommen. Die Kordillere bedeutet für die Wirtschaft Chiles Mineralien und Bodenschätze, das Kupfer ist die wichtigste Ressource. Es gibt auch noch eine sehr große Mine im Norden und eine weitere im Süden, sie befinden sich alle in der Kordillere. Die transnationalen Konzerne haben die Natur mit ihrem Raubbau völlig zerstört. Alles ist privatisiert worden – wirklich alles. Dieser Prozess hat einen historischen Kontext: Mehr als 45 Jahre lang war Chile im Schweigen versunken, seit Pinochets Putsch bis heute – oder bis vor Kurzem, denn die chilenische Gesellschaft bereitet sich gegenwärtig auf eine Veränderung vor, auf einen sozialen Wandel. So scheint es im Moment jedenfalls. Es kann natürlich sein, dass ich mich täusche. Aber das, was seit Oktober passiert, hat mich in jeder Hinsicht sehr beeindruckt. Aber ich bin nur ein Dokumentarfilmer – ich kann nichts vorhersehen.

Sie können nicht in die Zukunft schauen, aber Sie können dazu aufrufen, dringend nötige Veränderungen durchzusetzen. Am Ende Ihres Films appellieren Sie auch an die jungen Menschen im heutigen Chile, den Kampf Ihrer Generation weiterzuführen, die Heimat »neu aufzubauen und von vorn anzufangen«. Geschieht das jetzt?

Wir waren alle von den sozialen Explosionen im vergangenen Herbst überrascht. Das galt für mich als jemanden, der in Paris lebt, noch mehr aber für die, die in Santiago leben. Niemand hatte daran geglaubt, dass möglich sein könnte, was schließlich geschah. Das hatte wirklich etwas Magisches. Und jetzt, nachdem bereits einige Monate vergangen sind, kann man sich fragen, ob das Ganze eine Art von nachträglicher Reaktion oder Echo auf den Putsch von 1973 ist. Zu der gegenwärtigen Bewegung kann man vielleicht sagen, dass es eigentlich Salvador Allende ist, der als Sieger hervorgeht, weil die Menschen sich jetzt mit seiner Weltanschauung befassen. Allende setzt sich jetzt wieder durch und wird sozusagen wiedergeboren. Natürlich ist die Bewegung, die gegenwärtig die Leute auf die Straße treibt, nicht mit Allende und der Unidad Popular Anfang der 1970er-Jahre gleichzusetzen. Aber Allende damals und die Menschen, die heute protestieren, wollen das Gleiche: das Land verändern. Und das ist eigentlich das Wunderbare daran.

Die Kordillere der Träume
Regie: Patricio Guzmán
Real Fiction Filmverleih

 

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