Konstantin Wecker kennt nur eine Lösung für den außer Rand und Band geratenen Kapitalismus – angreifen und abschaffen
Mit seinem neuen Album »Ohne Warum« meldet sich Konstantin Wecker zorniger denn je zu Wort. Markus Bernhardt sprach mit dem Liedermacher über sein jüngstes Projekt und fragte nach den Gründen für seine Wut auf die herrschenden Verhältnisse.
Sie waren in den vergangenen Wochen im Studio und haben Ihre CD »Ohne Warum« aufgenommen. Die neuen Lieder klingen radikaler als ältere …
Im Moment habe ich das Gefühl, wer dieses System nicht angreift, kann nicht bei Verstand sein. Mich hat am meisten die Prognose für das Jahr 2016 erschüttert. Ein Prozent der Menschheit wird dann so viel besitzen wie die übrigen 99 Prozent zusammen. Das finde ich ungeheuerlich! Man kann nur noch zu dem Schluss kommen, dass die Menschheit restlos versagt hat. Wir erleben eine so ungeheuerliche Ungerechtigkeit, die jedem denkenden Menschen sofort auffallen muss, aber kaum etwas passiert. Ich frage mich, wie man immer noch ein System verteidigen kann, das solche Zustände hervorbringt und zulässt.
Sie erteilen dem Herumdoktern am Kapitalismus in der Krise eine klare Absage und widmen sich dem zunehmenden Kriegsgeheul, das wir derzeit erleben.
Die meisten meiner neuen Lieder beschäftigen sich mit dieser Thematik. Als überzeugter Pazifist werde ich regelmäßig attackiert und bestenfalls als »naiv« gebrandmarkt. Ich hingegen frage mich, ob diese Menschen, die den Pazifismus als Spinnerei abtun, selbst bereit sind, in den Krieg zu ziehen? Ich hätte ja noch ein gewisses Verständnis für sie, wenn sie selbst ihre Bündel schnüren und ihre Granaten einpacken würden. Aber ganz offensichtlich tun sie das ja nicht. Sie schicken andere vor.
Ich erlebe heutzutage die gleichen Debatten, wie ich sie 2003 führen musste, als ich aus Protest gegen den Irak-Krieg nach Bagdad gereist war. Wie kann man für einen Krieg sein, indem man sagt, unsere Jungs und Mädels schicke ich hin, damit sie mich verteidigen?! Ich selbst bleibe aber fein zu Hause. Ich bin zurzeit fassungslos über das, was weltgeschichtlich geschieht.
Die Mehrheit der Menschen scheint anderer Meinung zu sein. Auch von einer großen und schlagkräftigen Friedensbewegung ist weit und breit nichts zu sehen …
Ich habe die Friedensbewegung in den 1970er- und 80er-Jahren hautnah erlebt. Damals dachten wir, wir müssten gegen ein ungerechtes System antreten. Im Vergleich zu heute herrschten damals jedoch paradiesische Zustände. Da gab es eine SPD, die irgendwo noch das Gefühl vermittelte, sie könnte zumindest etwas mit sozialen Grundgedanken zu tun haben. Es gab Grüne wie beispielsweise meine hochverehrte Freundin Petra Kelly, die ihre Stimme gegen NATO und Krieg erhoben. Es gab so wundervolle Menschen damals. Aber mittlerweile ist alles den Bach runtergegangen.
Zweifeln Sie in diesen Tagen nicht an Ihren pazifistischen Idealen?
Ich hoffe, ich kann meinen Pazifismus aufrechterhalten. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht. Ich bin nicht der, der auch die andere Wange hinhält. Aber ich habe mich bewusst für den Weg der Gewaltlosigkeit entschieden. Das hat auch mit meinem Elternhaus zu tun. Mein Vater hat während der Nazizeit den Kriegsdienst verweigert. Ich fühle mich diesem Erbe verpflichtet. Wir werden als Menschen entweder eine gewaltfreie Zukunft haben, oder wir werden keine haben.
Sie setzen sich auch mit der Wirkmacht der Neuen Medien auseinander. So findet sich auf »Ohne Warum« eine neu getextete Fassung des alten Volksliedes »Die Gedanken sind frei«. Warum ausgerechnet dieses Lied?
Ich habe das Gefühl, dass die Gedanken noch nie wirklich frei waren. Aber dieses schöne Lied hat den Menschen immer Hoffnung gegeben und ihnen Mut gemacht. In Zeiten von Google müssen wir uns wirklich die Frage stellen, ob es überhaupt noch eine Chance für die Freiheit der Gedanken gibt. Ich sehe vielmehr die manipulative Kraft der Neuen Medien und erkenne auch deren Gefährlichkeit. Trotzdem können sie für uns auch eine neue Möglichkeit sein. Ich habe bei Facebook über 120.000 Follower und erreichte mit manchen Postings mehr als 500.000 Menschen. Eine ungeheure Zahl.
Darüber hinaus bin ich auch als Künstler in der glücklichen Lage, bei Konzerten bis zu 2.000 Menschen vor mir zu haben, die nicht gleich, aber zumindest ähnlich denken wie ich. Wenn ich nur immer in meinem Kämmerlein sitzen müsste, hätte ich das Gefühl, vollkommen allein mit meinen Ansichten zu sein. Dann hätte ich vielleicht keine Hoffnung mehr und würde zum Zyniker werden. So aber sehe ich Menschen, die mir Mut machen.
Was mich seit vielen Jahren umtreibt, ist die Frage, wie man Menschen, die sich mit Spiritualität, mit Mystik, auch mit nichtkirchlicher Religion beschäftigen, mit politisch Bewegten zusammenbringen kann. In der buddhistischen Szene etwa genügt es den meisten schon lange nicht mehr, sich zurückzuziehen und zu meditieren. Ich bin ja mit dem jüdischen Zen-Meister Bernie Glassman befreundet, der sich ganz aktiv in die politische Arbeit einbringt. Ein Mensch, der sich der Spiritualität widmet und einmal gespürt hat, dass wir Menschen eine Einheit und eben nicht getrennt sind, muss auch zum Widerständler werden. Der Untertitel meiner CD hätte daher auch »Mystik und Widerstand« lauten können. Hätte Dorothee Sölle dieses Begriffspaar nicht bereits genutzt, wäre es wohl auch so gekommen.
Einer der neuen Songs handelt von der Mordnacht in Kundus 2009. Was hat die Tatsache bei Ihnen ausgelöst, dass der für das Massaker verantwortliche deutsche Oberst Georg Klein nicht zur Rechenschaft gezogen wurde?
Das war für mich der Beweis, dass auch in Deutschland staatlich angeleiteter Mord wieder attraktiv ist. Kundus war ein Tabubruch – ein Signal. Das gilt auch für die Aussagen von Joachim Gauck. Dass der Bundespräsident militärische Optionen überhaupt wieder für notwendig hält, sollte in einem Land, das so viel Schuld für Verbrechen auf sich geladen hat, überhaupt nicht mehr möglich sein.
Was wir so dringend bräuchten, wäre eine Revolution des Bewusstseins. Es muss sich in den Köpfen der Menschen etwas verändern. Und als Künstler habe ich vielleicht eine Chance, etwas dazu beizutragen.
Europa feiert am 8. Mai den 70. Jahrestag der Befreiung vom Nazifaschismus. Aber wie allein die Ukraine-Krise zeigt, ist der Faschismus heute so gefährlich wie selten seit 1945. Wie muss die antifaschistische Linke auf diese Herausforderung reagieren?
Die Friedensbewegung muss antikapitalistisch sein, weil Kapitalismus und Krieg zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Es gibt keine kapitalistische Friedensbewegung. Auch wenn manche Personenkreise aktuell versuchen, uns etwas anderes einzureden. Es ist traurig, dass es heute keine Friedensbewegung wie in den 1980er-Jahren gibt. 2003 gingen noch Zehntausende auf die Straße, und Reinhard Mey, Hannes Wader und ich musizierten in Berlin noch vor über 500.000 Menschen gegen den Irak-Krieg. Mit Blick auf den Konflikt in der Ukraine, der einen Flächenbrand in Europa auslösen kann, wäre eine starke Antikriegsbewegung jedenfalls notwendiger denn je.
Es gibt von dem Schriftsteller Arno Gruen ein großartiges neues Buch, das »Wider den Terrorismus« heißt. Darin schreibt er, es gäbe so viele Menschen, die sich so vom Leben vernachlässigt fühlen, dass sie den Tod attraktiver finden. Das gilt nicht nur für Anhänger des sogenannten IS, sondern für alle Menschen, die Heilslehren hinterherlaufen. Und wir vernachlässigen in diesem System 99 Prozent der Menschen? Auch wenn diese es noch nicht wissen und denken, sie wären noch dabei – sie sind es nicht.
Konstantin Wecker Ohne Warum
Sturm & Klang
www.wecker.de
Das Interview erscheint in der Melodie und Rhythmus 3/2015, erhältlich ab dem 30. April 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.