Essays über verlorenes Klassenbewusstsein
Interview: Maik Rudolph
»Chavs« (Prolls), »Hooligans« und »Nazis« – so lauten Schmähbegriffe für die weiße Arbeiterklasse in Großbritannien. Der Londoner Schriftsteller Tommy Sissons gibt in seiner Essaysammlung »A Small Man’s England« einen Einblick in die Lebenswirklichkeit der von der Labour Party im Stich gelassenen Lohnabhängigen in seinem Land. M&R sprach mit ihm über den Identitätsverlust der Arbeiterklasse, die Rolle der Kulturindustrie bei ihrer Stigmatisierung und mögliche Wege zu einem neuen proletarischen Selbstbewusstsein.
Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass die männliche weiße Arbeiterklasse in den Statistiken praktisch nicht auftaucht. Sie wird dort nur in der Kategorie »weiße Briten« geführt. Auch für die hegemonialen Kräfte in der Labour-Partei existiert nur noch die Mittelschicht. Wer ist denn überhaupt die weiße Arbeiterklasse?
Das sind all jene Menschen, die nicht vom Kapitalismus profitieren. Die Arbeiterklasse ist sehr vielfältig, wird aber in Großbritannien von den Medien meist pauschal als Ansammlung rassistischer Brexit-Befürworter abgestempelt, die sich jeden Abend im Pub betrinken. Es ist schwierig, die Arbeiterklasse im deindustrialisierten England noch ausfindig zu machen. Aber es gibt eine Masse von Menschen, die vom langen Kampf für soziale Gerechtigkeit erschöpft sind in einem Land, das immer neoliberaler wird. Sie haben aufgegeben und keine Hoffnung mehr auf Veränderung. Die bürokratischen Schikanen der Arbeitsämter machen sie für die Demagogie rechter Politiker anfällig, die ihnen das Gefühl geben, dass ihnen erstmals wirklich Gehör geschenkt wird.
Aber die Kulturindustrie macht eine Menge Profit mit den Abgehängten. Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat sogenannter Poverty Porn wie die populäre »The Jeremy Kyle Show«, in der Menschen aus der Arbeiterklasse als »Assis« dargestellt werden?
Die Gemeinschaften in den Arbeitervierteln werden gespalten. …
[≡] Tommy Sissons
A Small Man’s England
Repeater Books
212 Seiten
Das komplette Interview erscheint in der Melodie & Rhythmus 3/2021, erhältlich ab dem 18. Juni 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.