Warum eine Gegenkultur auf historisch-materialistischer Basis alternativlos ist
Der einst von Metternich formulierte Imperativ der Restauration, »das Volk soll sich nicht versammeln, es soll sich zerstreuen«, hat sich erst im Zeitalter totaler Massenmanipulierbarkeit realisiert. Wo im Volldampfgeschwätz der Talk-, Game- und Castingshows stets die Suggestivfrage »Wollt ihr den totalen Markt?« mitschwingt, die die Meinungsmacher freilich schon längst über unsere Köpfe hinweg im Sinne des Kapitals beantwortet haben, dringt der Notruf nach einer kämpferischen Fundamentalopposition kaum mehr durch.
Als zumindest im Ansatz wirksames Antidot zur Kulturindustrie der Herrschenden hat sich Gegenkultur bewährt. Aber wahrlich nicht erst, als neurechte Verfechter eines Gramscianismus der dummen Kerls die Bildfläche betreten haben, konnte auch – wie sollte es anders sein − die Hintergehbarkeit des Begriffs »Gegenkultur« bewiesen werden. Seit Kunst und Kultur in die Warenform gepresst werden, gilt: Solange er nur als Schlagwort geführt wird, ist er schnell entleert und kann leicht ausgeschlachtet werden. Beispielsweise wenn geschäftstüchtige Promoter affirmativen Hip-Hop von der Antilopen und anderen Langweiler-Gangs mit ein bisschen Radical chic aufpeppen, um rebellischen Jugendlichen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Um auch Schlagkraft zu entfalten, bedarf Gegenkultur historisch-materialistischer Erdung. Das bedeutet nicht nur Melodien, in denen man die Herzen der Revolutionäre singen hört. Gegenkultur heute atmet wenig Agitation und Widerstand. Selbst in seinem Land sei sie »immer noch ein Projekt im Entwicklungsstadium«, erklärte der kubanische Journalist Enrique Ubieta der M&R-Redaktion im Gespräch. »Damit sie sich wirklich konsolidieren kann, braucht sie eine ökonomische Basis.« Weil diese in sozialistischen Ländern nur eingeschränkt vorhanden ist, in den kapitalistischen Ländern sogar systematisch zerstört wurde, kann Gegenkultur gegenwärtig kaum artikulieren, was sein soll. Ihr bleibt häufig nur noch, laut zu sagen, was nicht sein darf.
Solange selbst Linke die historischen und politischen Koordinaten immer mehr aus den Augen verlieren, sich dem Rechtsopportunismus hingeben und fröhlich der Barbarei der westlichen Zivilisation huldigen oder die »Heil Trump«-Rufe der Faschisten so dramatisch falsch verstehen, dass sie einen Oligarchen mit hochgradig krimineller Energie als pazifistischen Heilsbringer zelebrieren, ist radikale Negativität oft der einzige Ausweg. Noise oder progressiver Black Metal etwa können das Stöhnen und Schreien vor pulsierendem Schmerz derart ins Unerträgliche treiben, dass die Quantität des Grauens und der Verzweiflung daran in eine neue Qualität von Hoffnung umschlägt und die Konturen einer anderen Welt aufblitzen.
Praktisch muss Gegenkultur aber heute so sehr wie selten zuvor bedeuten, konsequent von der Waffe der Ideologiekritik Gebrauch zu machen. Allein schon, wie wir von Marx und Engels wissen, um den stetig vom bürgerlichen Idealismus produzierten »Schein der Selbstständigkeit« des Traums vom grenzenlosen Konsum aufzulösen, der uns von der »Großen Weigerung« (Herbert Marcuse) und Solidarität mit den vielen abhält, die das Spiel auch nicht (mehr) mitspielen wollen.
Mit solchen Überlegungen hat die M&R-Redaktion den Tigersprung zum »Magazin für Gegenkultur« gewagt, als Organ für alle, die die Zeichen der Zeit nicht ignorieren wollen: Die Geschichte der Verdinglichung nicht zuletzt unserer ästhetischen Lebensäußerungen zur Ware muss gegen den Strich gebürstet werden − wider den von neoliberaler Eindimensionalität durchwirkten Zeitgeist.
Der Artikel ist zuerst am 06.01.2018 in der Tagezeitung junge Welt erschienen.