M&R-Newsletter 2/2025, 28.3.2025
Rettung der Vergangenheit
Zur Dialektik des 8.-Mai-Gedenkens nach der Zeitenwende
Susann Witt-Stahl
Es geschah 2004 auf einer Gedenkfeier zum 8. Mai in einem Ehrenhain für jüdische Spanien-Kämpfer in der Nähe von Jerusalem. »Es war nicht unser Fehler, dass wir nicht gewonnen haben«, rief der Kommunist David Ostrowski eine herbe Niederlage ins Gedächtnis, die 1939 nicht zuletzt durch den Verrat der westlichen Demokratien durch Anerkennung des Franco-Regimes herbeigeführt wurde und Hitler den Weg ebnete, wenige Monate später einen Weltenbrand anzuzetteln. »Ich war am 9. Mai in Berlin – ich habe gewonnen«, unterbrach ihn sein Kamerad Salman Salzman mit einer Widerrede.
Diese Episode, die der israelische Filmemacher Eran Torbiner dokumentiert hat, spiegelt die Dialektik des aufgeklärten 8.-Mai-Gedenkens: Es hat das Niederringen der faschistischen Diktatur als welthistorischen Sieg zu feiern und an die vielen trauernd zu erinnern, die dafür ihr Leben lassen mussten und die die bisher verhinderte Erledigung eines welthistorischen Auftrags einklagen – Verhältnisse herzustellen, die keine Barbarei mehr hervorbringen.
Der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus gilt zu Recht als einer der hoffnungsvollsten Momente des 20. Jahrhunderts. »Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt, alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen – und ich habe dazu Akkordeon gespielt«, erzählte die einem Todesmarsch aus dem KZ Ravensbrück entkommene Musikerin Esther Bejarano, wie sie in der mecklenburgischen Kleinstadt Lübz das Ende des Naziterrors und Massenschlachtens in Europa erlebte. Vor ihren Augen blitzte damals eine konkrete Utopie auf: Als US-Soldaten und Rotarmisten sich verbrüderten, küssten und gemeinsam den Frieden begrüßten, schien für einen Augenblick alles möglich.
Aber es kam anders. In Westdeutschland sollte aus den Ruinen der alten Ordnung ein Globke-Staat auferstehen und eine Restauration einsetzen. Das Kalkül der Nazi-Funktionseliten, dass sie »im Kampf gegen eine kommunistische Expansion« gebraucht würden, wie es Reinhard Gehlen, ehemaliger Leiter der Abteilung »Fremde Heere Ost« der Wehrmacht und dank US-Kriegsministerium später Chef des Bundesnachrichtendienstes ausdrückte, ging auf. Was in der Bonner Republik nicht zuletzt wegen der Existenz eines Anti-Globke-Staats gebändigt erschien, drängte nach der »Wiedervereinigung« und einer Phase der »Normalisierung« zum Durchbruch: deutsche Kontinuitäten, die sich gegenwärtig während des nächsten »heimlichen Aufmarschs«, wie es in Erich Weinerts antifaschistischem Lied heißt, gegen Russland wieder entfalten. Da sie nichts als Vernichtung und Zerstörung zeitigen können, wieder faschistische Räuberheere loslassen – diesmal unter dem Kommando der »wehrhaften Demokratie« – wird die Manipulation oder Auslöschung der kollektiven Erinnerung an Anfang und Ende des Schreckens des letzten großen imperialistischen Krieges zur Notwendigkeit.
Foto: IMAGO/EPD
Bestellen Sie den Newsletter von Melodie & Rhythmus!
Bis zu einem möglichen Neustart der M&R wollen wir Sie regelmäßig mit einem kostenlosen Newsletter informieren. Neben einem aktuellen M&R-Hintergrundartikel wird es Hinweise auf Neuerscheinungen und Termine geben.
In den ersten zwei Wochen nach Erscheinen ist der Artikel exklusiv für die Bezieher des Newsletters zugänglich. Sofern Sie sich noch nicht für den Newsletter eingetragen haben sollten, können Sie diesen hier kostenlos bestellen.
In eigener Sache:
Wenn die Kraft fehlt
Weshalb der Verlag 8. Mai das Kulturmagazin Melodie & Rhythmus einstelltLeider müssen wir heute eine schmerzliche Niederlage eingestehen: Das Magazin für Gegenkultur Melodie & Rhythmus (M&R) kann nicht weiter erscheinen. Das hat verschiedene Gründe, sie sind aber vor allem in unserer Schwäche und in der der Linken insgesamt zu sehen. weiterlesen
*****************
»Man hat sich im ›Grand Hotel Abgrund‹ eingerichtet«
Zum Niedergang des linken Kulturjournalismus – und was jetzt zu tun ist. Ein Gespräch mit Susann Witt-StahlAusgerechnet vor einem heißen Herbst mit Antikriegs- und Sozialprotesten wird M&R auf Eis gelegt – ist das nicht ein besonders schlechter Zeitpunkt?
Ja, natürlich. … weiterlesen
Anzeigen br>