Melodie & Rhythmus

Materialisierung der Angst

23.06.2020 14:15
Foto: privat

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Kunstschaffen als Sublimierungs- und Bewältigungsstrategie in der Coronakrise

Andreas Wacker

Ein alter Witz beschreibt das Aufeinandertreffen zweier Planeten, bei welchem der eine dem anderen rückmeldet, dass sein Gegenüber sehr schlecht aussehe, woraufhin dieser ihm erwidert, er habe sich »Homo sapiens« eingefangen. In der jüngsten Erweiterung dieses Kalauers empfiehlt der Planet ihm daraufhin »Corona forte®« und wünscht ihm rasche Besserung.
Ängste vor Erkrankungen und die Suche nach potenten Gegenmitteln im Fall eines Ausbruchs sind so alt wie die Menschheitsgeschichte, zumal das Geschehen eine veritable Bedrohung in puncto Lebenszeitverkürzung darstellen kann. Abgesehen von einer behandlungsbedürftigen Überausprägung, die der Fachmann dann »Nosophobie« nennt, spielen krankheitsbezogene Ängste im Alltag dennoch eine eher untergeordnete Rolle.

Aber was tun, wenn die Welt gerade von einem leicht übertragbaren und potenziell tödlichen Virus kolonisiert wird und man leider dabei nicht Roland Emmerich zufrieden »Cut!« im Hintergrund rufen hört?

Nicht umsonst definieren Psychologen Angst als einen »aus dem Gefahrenschutzinstinkt erwachsenen Affekt«. Doch in der heutigen Ermangelung von auch schon aus der Ferne erkennbaren Mammuts oder Säbelzahntigern zeigt sich im Angesicht elektromikroskopischer Feinde ein ganz anderes Problem: Unklarheit und Ungewissheit. Das Tückische an der Angst in der modernen Welt ist zumeist die Frage, wie viel Daseinsberechtigung sie denn nun tatsächlich hat bzw. man ihr geben sollte. Denn mit unserem serienmäßig eingebauten Alarmsystem sind wir instinktiv auf sie programmiert, zollen ihr bedingungslosen Respekt.

Was also, wenn die Angst und das aus ihr abgeleitete Handeln nun doch übertrieben oder unverhältnismäßig sein mögen? Oder der Objektbezug falsch wäre, das heißt, nicht der Sensenmann, sondern ein milliardenschwerer Computermogul an der Haustür zu klopfen droht?

Ob wir wollen oder nicht: Corona zwingt jedes für Informationen zugängliche Individuum dazu, eine Haltung einzunehmen. So wie man nicht nicht kommunizieren kann, kann man neuerdings auch nicht nicht zum Virus Stellung beziehen. Denn Intensität, Ausprägung und Bezugspunkte der Angst sind nicht mehr reines Privatvergnügen, sondern zwingen zu einer klaren gesellschaftlichen Positionierung – was wiederum Angst auslösen kann. …

Andreas Wacker ist Psychotherapeut und Künstler, er arbeitet seit fast 15 Jahren im klinischen Bereich am Boden­see. Malen ist sein Tagebuch, in dem er Alltag, Gedanken, Erlebtes und Erlittenes, ob eigenes oder gehörtes, konserviert. Jeder Pinselstrich erzählt eine persönliche Geschichte. Sein Beimischen gängiger Psychopharmaka bleibt dabei nicht immer nebenwirkungsfrei. Aber dafür bieten seine großformatigen Ölgemälde auch in Zeiten der Coronapandemie einen möglichen Zugang zum oft Unaussprechlichen.

In der gedruckten Ausgabe:
Werke von Andreas Wacker

»Dichotisches Sehen im Störschall«, Ölfarbe auf Leinwand, 68 × 100 cm, 2019
»myBaum«, Ölfarbe, Blut und Schweiß auf Leinwand, 110 × 180 cm, 2017
»Angstbeißer«, Ölfarbe, Lorazepam, Pregabalin und Alkohol auf Leinwand, 110 × 200 cm, 2017
»Megalativ des verlustigen Ideals – vom Bestesten zum Schlechtestesten«, Ölfarbe, Lorazepam, Pregabalin und ­Escitalopram auf Leinwand, 200 × 130 cm, 2016
»Negativ-reziprokes Waterboarding«, Ölfarbe und Kautabak auf Leinwand, 100 × 200 cm, 2015
»Gastmahl der distanzierten Beschmutzer«, Ölfarbe auf Leinwand, 90 × 130 cm, 2013

Das komplette Interview erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2020, erhältlich ab dem 26. Juni 2020 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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