Das Kollektiv gehört zur Matrix allen menschlichen Zusammenlebens. Das gilt für die Organisation gesellschaftlicher Arbeit und sozialen Miteinanders – wie für das Kunstschaffen. Vom dionysischen Chor über das Sinfonieorchester bis zur Metal-Band: Seit jeher trägt das gemeinschaftliche Musizieren kollektive Züge. Wie weit diese entfaltet werden können, hängt von dem Maß der Freiheit seiner Akteure und der Überwindung des Hierarchischen ab. Die Klassenstruktur, in der wir nach wie vor leben, setzt dem Kollektiv Grenzen, die beim Aufbau einer besseren Gesellschaft überwunden werden müssen. Fortschrittliche Musiker wissen das. Weil Kunst nicht nur die Möglichkeit hat, die Wirklichkeit zu spiegeln, sondern auch einen Vorschein einer möglichen anderen Welt zu erschaffen, experimentieren Musiker immer wieder mit antihierarchischen Organisationsformen. In den 1920er-Jahren gründete sich in Moskau mit Persimfans ein Orchester-Kollektiv ohne Dirigenten. Knapp 70 Jahre später formulierte die US-amerikanische Industrial-Hip-Hop-Band Consolidated mit »This Is a Collective« und anderen musikalischen Kampfansagen eine Antithese zu George Bushs neoliberaler New World Order.
Von solchen in Vergessenheit geratenen Projekten demokratischen Musizierens möchten wir in diesem Heft erzählen. Und noch viel mehr: In dem Bewusstsein, dass die Freiheit des Einzelnen gleichzeitig Voraussetzung und Resultat des Kollektivs ist und die Dialektik von Individuum und Kollektiv in den Musikwerken omnipräsent (etwa in der Beziehung von Chor und Solist, Strophe und Refrain), hat sich Moshe Zuckermann mit dem spannenden Verhältnis dieser Gegensätze in der Kunstmusik befasst. Natürlich dürfen auch Hanns Eisler und Bert Brecht nicht fehlen, die mit ihren Werken und theoretischen Überlegungen die Koordinaten für das moderne linke Musiktheater und kollektivistische Kunstverständnis gesetzt haben. Schließlich war es Eisler, der, zusammen mit Adorno, den Massenbetrug durch das repressive »falsche Kollektiv« – die Ganzheitsmaschine des Militärs, vor allem die faschistische »Volksgemeinschaft« -, das »sich an der eigenen Macht berauscht«, entlarvte und dagegen das wahre Kollektiv hochhielt, das in unserer Gesellschaft unterdrückt wird.
Das falsche Kollektiv wird heute ausgerechnet gegen die aggressiv in Stellung gebracht, deren politische Vorgänger seine ersten Opfer waren: Kommunisten, Sozialisten und andere Emanzipationsbewegungen. Die als Kollektiv camouflierten Zwangsformationen sind die schein-argumentive Keule der zur Staatsdoktrin erhobenen Totalitarismustheorie, mit der die Ideologen des »freien Marktes« – ausgerechnet die, die falsche Kollektive immer wieder ermächtigt haben! – Kommunismus und Faschismus gleichsetzen und jede Form von sozialem Zusammenhalt zu zerschlagen versuchen. Sie trachten danach, unsere gesamte Lebenswelt in einen Kriegsschauplatz für ihren »globalen Wettbewerb« zu verwandeln.
Wie M&R zeigt, wütet der Antikollektivismus auch in der Musikszene: in dem mehr als zweifelhaften Glücksversprechen der egoistischen Selbstverwirklichung, dem Lady Gaga huldigt, im »Normcore«, einer popkulturellen Erscheinungsform des falschen Kollektivs, wie auch in der Propaganda gegen Klassenbewusstsein und das revolutionäre Kollektivsubjekt, der sich nicht wenige Ravepunkbands im linksautonomen Milieu verschrieben haben.
Liebe Leser, Sie merken schon: M&R liefert nicht nur wieder eine Menge Lese-, sondern auch Zündstoff – inklusive Aufruf. Wozu? Natürlich zum kollektiven Widerstand gegen die Dystopie einer Welt ohne Solidarität.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R
