Melodie & Rhythmus

Weh spricht: Vergeh!

28.10.2014 14:13

Editorial

Leiden und Schmerz sind substanzielle Erfahrungen. Warum ist dann nur Liebeskummer ein strapaziertes Sujet in der kulturindustriell produzierten Popmusik, alle anderen Formen des Leidens dagegen werden nahezu ausgeblendet? Ein an den wahren Bedürfnissen des Menschen orientiertes Popkultur- Magazin wie M&R treiben solche Fragen um. Besonders in einer (Jahres-)Zeit, in der nicht nur die Tage dunkler werden, sondern auch die gesellschaftlichen Horizonte. Also suchen wir das Gespräch mit einem kritischen Kulturwissenschaftler, der mit uns den Dingen angemessen auf den Grund geht: Mit Moshe Zuckermann analysieren wir die Unfähigkeit und Weigerung kommerzieller Popmusik, das Leiden auf der Welt beredt werden zu lassen.

Wir widmen uns aber auch Künstlern und Werken, die auf hohem Niveau »jammern« und konsequent mit Spaß-Prinzip und Kitsch gebrochen haben. Wir porträtieren die US-amerikanische Avantgarde-Musikerin Diamanda Galás. Mit der Musik-Literatin Anne Clark führten wir ein Interview, um etwas über »Weltschmerz« zu erfahren. Mit Genres wie Gothic und Tango, deren musikalisches Material von Trauer und Schmerz durchwirkt ist, beleuchten wir häufig marginalisierte suizidale und elegische Seiten populärer Kultur. Wir widmen uns Tabuthemen wie Tod und Depression und dem – zumindest scheinbar – koketten Verhältnis zwischen Leiden und Lust.

Natürlich ist M&R wieder am Puls des aktuellen Zeitgeschehens und behandelt kurz nach dem jüngsten Gaza-Krieg und vor dem Ende der ISAF-Mission in Afghanistan brisante Themen: Die Schmerzgrenze deutlich überschritten haben Popstars in Israel, die mit Rassismus und Linken-Hass Schlagzeilen machen, oder Musiker, die am Hindukusch als Frontunterhalter die Begleitmelodie für die Auslandseinsätze der Bundeswehr spielen. Dass andere Popmusiker noch ganz bei Trost sind, demonstrieren Banda Bassotti: Wir sprachen mit der italienischen Ska-Punkband, die jüngst auf »No Pasarán!«-Tour durch Russland und den Donbass ging, um ein Zeichen gegen den mörderischen Faschismus in der Ukraine zu setzen – wo derzeit, wie unser Gastautor Stanislav Retinskiy aus Donezk anschaulich belegt, in großem Stil sozialistisches Kulturerbe vernichtet wird.

Con dolore gibt es auch einen Geburtstag zu feiern: »Der eindimensionale Mensch« wird 50 Jahre alt. M&R bat Intellektuelle, wie den Philosophen Gunzelin Schmid Noerr und den Schriftsteller Erasmus Schöfer, sich der von Herbert Marcuse entdeckten tragischen Figur noch einmal zu nähern.

Liebe Leser, bevor Sie M&R 6/14 beiseitelegen, weil Sie sich nicht einem Feuerwerk von Pein und Not aussetzen wollen: Das berühmte Diktum von Nietzsches Zarathustra »Weh spricht: Vergeh!« enthält eine wertvolle Erkenntnis, die im fortgeschrittenen Kapitalismus noch an Bedeutung gewonnen hat: In der Negativität des Leidens ist der kategorische Imperativ »Das darf nicht sein!« angelegt. Jeder Akt, jede Qual und jedes Elend in der Musik oder anderen Kulturformen zu einem wahrhaftigen Ausdruck zu bringen (also ohne den Lügen der Kulturindustrie auf den Leim zu gehen), impliziert den Aufruf zu widerständigem Handeln. Der kann auch in beißendem Humor verpackt sein. Der Satiriker und »Demotivationstrainer« Nico Semsrott wird uns erklären, warum man über Depressionen nicht nur Witze machen kann, sondern sogar muss.

Glauben Sie uns: Wir wollen Sie zum Beginn des Requiem-Monats November keineswegs zur Resignation verführen. Ganz im Gegenteil. Wir werden Sie ermutigen, den herrschenden Verhältnissen einen heißen Herbst zu bereiten.

Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R

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