Mondo Sangue über verkanntes Musikschaffen: Den Kannibalenfilm-Soundtrack
Interview: Matt Zurowski
Wenngleich die blutrünstigen Kannibalen-Schocker der 70- Jahre nur von wenigen Kritikern zu den Höhepunkten des italienischen Kinos gezählt werden, haben sie doch eine eingeschworene Fangemeinde. Seit der Wiederveröffentlichung von Nico Fidencos Soundtrack zu »Nackt unter Kannibalen« im Jahr 1996 steht vor allem die eigentümliche Filmmusik im Zentrum des Fan-Interesses. Das Stuttgarter Duo Mondo Sangue, bestehend aus Christian Bluthardt und Yvy Pop, hat nun einen Soundtrack zu »L’Isola dei dannati« eingespielt – einem »verschollenen« Film, den noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat.
Wie kommt man auf die Idee, ausgerechnet einen imaginären Kannibalenfilm zu vertonen?
Yvy Pop (YP): Wir haben vor zwei Jahren bei der Produktion von zwei Sound tracks erstmals zusammengearbeitet. Schon damals war klar: Wir wollen etwas gemeinsam entwickeln. Soundtracks zu Filmen, die wir gerne gesehen hätten, wenn sie gedreht worden wären.
Christian Bluthardt (CB): Wir wollten auf jeden Fall im Bereich der italienischen Soundtracks vergangener Zeiten arbeiten und einigten uns recht schnell auf die verkannteste aller Nischen: den Kannibalenfilm.
Was macht heute den Reiz dieser Kannibalenfilme aus?
CB: Die Filme sind nach wie vor wegen ihrer argen Brutalität und expliziten Darstellungen berühmt-berüchtigt – außerdem bieten sie einen gewissen verruchten Retro-Charme.
YP: Der Reiz für uns liegt aber in den wunderschönen, epischen und zu Unrecht geschmähten Soundtracks, die diese verstörenden Bilder untermalen. Diese Tür wollten wir aufstoßen.
Damals wurden Kannibalenfilme von Kritikern als rassistisch, frauenfeindlich und sozialdarwinistisch verrissen. Finden Sie diese Einschätzung im Rückblick zutreffend?
CB: In gewisser Weise stimmt das schon. Das trifft aber auf die meisten Exploitation-Filme aller Genres und Länder zu. Bei den Kannibalen ist es schlichtweg deutlicher gezeichnet. YP: Heute, 40 Jahre nach der Hochzeit dieser Filme, lassen sich diese Vorwürfe umso besser im jeweiligen historischen Kontext verorten. Die Provokation war vorprogrammiert – egal, ob damit aufrüttelnd der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten oder schlichtweg um des ausbeuterischen Schauwerts willen.
Waren die Macher nur auf eine schnelle Mark aus, oder versuchten sie teilweise auch »künstlerische Ambitionen« zu verwirklichen?
CB: Teils, teils. Einige gaben ja in Interviews zu, dass ihre einzige Ambition im Geldverdienen lag. Andere Regisseure, z.B. die »Mondo Cane«-Macher, schürten einen ganz tief liegenden Hass auf die Welt. Über die Form ihrer Ausdrucksweise dieser Ansichten mag man streiten. Für mich bekommen ihre Filme dadurch eine besonders düstere, tragische Note. Bei den Kannibalenfilmen sieht man handwerklich auch Unterschiede wie Tag und Nacht. Ruggero Deodato ist mit »Cannibal Holocaust« auf allen Ebenen ein filmisches Meisterwerk gelungen, ganz unabhängig vom Genre.
Haben Komponisten wie Riz Ortolani und Nico Fidenco ihre Musik auf die jeweiligen Filmszenen zugeschnitten? Oft ist der Kontrast zwischen angenehmer Musik und äußert unangenehmen Bildern ja etwas befremdlich.
CB: Da oft auch die Musik aus einem Film einfach in den nächsten hineinkopiert wurde, schließe ich ein szenenweises Komponieren eher aus. Und der Kontrast zwischen schöner Musik und Ekel ist genau das, was die Filme für mich so besonders machen!
Wie bewerten Sie die Musik der Kannibalenfilme künstlerisch? Ist sie ebenfalls nur »trashig« – oder mehr als das?
CB: Die Musik ist keinesfalls trashig – allerhöchstens gelegentlich. Grundsätzlich ist sie ein weiteres narratives Instrument. Sie ergänzt die grausigen Geschichten und Szenen um eine ganz wertvolle Komponente: Die Atmosphäre und das psychologische Grauen entfalten sich über die Tonspur. Wenn ich nur die ersten Akkorde von Ortolanis »Cannibal Holocaust«-Theme höre, bekomme ich ganz gemischte Gefühle, irgendwo zwischen absoluter Harmonie und einem sonderbar mulmigen Gefühl. Das ist wirklich einmalig.
Mondo Sangue L’Isola dei dannati
Allscore
Das Interview lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 5/2016, erhältlich ab dem 2. September 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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