In diesen Tagen ist es schwer zu entscheiden, worauf man sein Entsetzen konzentrieren soll. Auf das Massaker in Gaza oder das Gemetzel in Donezk oder auf eine andere der sich stetig mehrenden Barbareien? »Wenn die Kanonen donnern« – das gilt freilich auch für die Propagandakanonen –, »schweigen die Musen«, fordern die Herren aller Kriege seit jeher. Ein linkes Musikmagazin darf ihnen natürlich nicht gehorchen. Es muss mit schonungsloser Ideologiekritik antworten, die erfahrungsgemäß ohne solides Theoriefundament wenig Wirkung erzielt. Wer, wie M&R und ihre Leser, Gegenmusikkultur stark machen will, muss die Wirkmacht von Tönen, Beats, Sounds, Stilen verstehen, zwischen deren emanzipativen und manipulativen Potentialen unterscheiden lernen und die Tücken ihrer Inszenierung, Vermarktung und Fetischisierung kennen.
Daher lädt M&R Sie ein, es sich auf der Couch bequem zu machen und mit Freud und den Freudomarxisten auf eine spannende Expedition in das eigene (verdrängte) Gefühls- und Triebleben zu gehen (dafür brauchen wir so viel Platz, dass die Rubrik »Feature & Debatte« ausnahmsweise entfällt): Aus einem Gespräch mit dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik ist zu erfahren, warum die Tonkunst – vor allem die populäre – der Schlüssel zu einer »verlorenen Welt« unserer individuellen »Vorzeit« ist. Ben Watson von der Londoner Association of Musical Marxists führt uns vor Augen und Ohren, welche heilenden Kräfte Pop in Symbiose mit Psychoanalyse entfalten kann und was es zu entdecken gibt, wenn wir uns auf das Unbewusste der Kulturindustrie konzentrieren. Moshe Zuckermann erinnert uns daran, dass autoritärer Führerkult und Starkult näher beieinander liegen als so mancher Pop-Fan wahrhaben will.
Mit Analyse und Kritik begegnen wir auch dem aktuellen Zeitgeschehen. Während das Medien-Establishment die Eskalationen weiter anheizt (»Stoppt Putin jetzt!«), nimmt M&R die »Punkband« Pussy Riot – die Kulturkampf-Multifunktionswaffe gegen Russland – unter die Lupe. Wir zeigen, dass der Aufstand der »Muschis« vor allem eines ist: eine Inszenierung. Zu Beginn ihrer Karriere als Anti-Putin- Kämpferinnen präsentierten sich die Frauen als Rebellinnen in Springerstiefeln und Sturmhauben. Nunmehr lassen sie sich immer an der Seite der Mächtigen und Reichen als Models ablichten. Maskenlos und ganz ohne Punk.
Der ungleiche Kampf der unabhängigen Musiklabels gegen den Internet-Giganten Google jedoch ist, wie M&R zeigt, ganz real. Gleiches gilt für den musikalischen Widerstand – ein Leitmotiv von M&R – gegen die inhumane Flüchtlingspolitik der EU, den wir begleiten. Wir sprechen mit einem Musiker, der erleben musste, was es heißt, ein Asylant und nicht frei zu sein. Genauso gut wissen das die Mitglieder der argentinischen Gefängnisband Rompiendo Sistemas. Sie führen uns aber auch vor, wie man mit Musik – das ist notwendig für das psychische Überleben – »die Welt zu einem weniger schlechten Ort machen« kann.
Sie merken schon, liebe Leser, nur gemütlich geht es auf der M&R-Couch nicht zu. Dafür ist die Gefahr, dass Sie vor Langeweile einschlafen, praktisch ausgeschlossen.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R