Billy Talent beschwören die verändernde Kraft des Rock’n’Roll und beweisen, dass Inhalte ohrwurmtauglich sein können
Christoph Kutzer
Besaß Rockmusik jemals die revolutionäre Sprengkraft, die sie so gerne zelebriert? Vermochte sie die Welt zu verändern, und vermag sie es noch? Ian D’Sa, Gitarrist und Hauptsongwriter der kanadischen Alternative-Rockband Billy Talent, glaubt an den Rock’n’Roll. Er sei eine potenziell treibende Kraft für gesellschaftliche Entwicklungen, habe in den 50er- und 60er-Jahren gesellschaftliche Ketten gesprengt, in den 90ern mit dem Grunge Zeichen gesetzt und könne auch heute noch relevant sein – trotz all des nichtssagenden Gedudels um uns herum. Die Hymne zu diesem Credo findet sich unter den neuen Stücken: »Louder than the DJ«. Überhaupt zeigt sich das Quartett auf seinem mittlerweile fünften Album engagiert. »Afraid of Heights« erhebt die Höhenangst zur Metapher für das Zögern, den entscheidenden nächsten Schritt zu gehen. »Es ist schon verrückt«, stellt Ian fest. »Einerseits neigt der Mensch dazu, vorzupreschen und erst danach über die Folgen nachzudenken, wenn sie ihn selbst betreffen. Andererseits wagt er zu wenig, wenn es darum geht, Dinge wieder ins Lot zu bringen. Die Angst vor neuen Wegen blockiert uns oft genug.«
Auch wenn das Cover-Artwork von »Afraid of Heights« mit seiner Zweiteilung zwischen menschengemachter Zerstörung und Naturkatastrophen nicht gerade Zuversicht ausstrahlt: Ian sieht die Mission der Band in der Verbreitung positiver Gedanken. »In unserer Anfangszeit haben uns Rage Against the Machine geprägt, die zwar auch eine gewisse Aggressivität besaßen, aber nicht destruktiv waren. Das gilt auch für unsere Punk-Wurzeln. Bad Religion und Minor Threat oder die Clash-Alben unserer großen Brüder haben uns mehr beeinflusst als die Kapellen, die nur übers Saufen, Anarchie und ihre Wut sangen. Wir wollen die Leute darin bestärken, zusammenzuhalten und einige Dinge anzupacken, die im Argen liegen.« Dazu gehört auch die Fähigkeit, vermeintliche Wahrheiten zu hinterfragen und sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. »Auch das ist ein Aspekt von ›Afraid of Heights‹«, stimmt Ian zu. »Sieh dir nur an, was sich gerade im US-Wahlkampf abspielt. Es ist erschreckend, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung bereit scheint, jemanden wie Donald Trump zu unterstützen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er es versteht, die Ängste der Menschen zu schüren. Rassismus, Islamophobie, Homophobie – er spielt auf der Klaviatur uralter Vorurteile, die sich bis zum heutigen Tag gehalten haben. Ich kann nur sagen: Lasst euch nicht manipulieren! Schon gar nicht von einem wie Trump, der alle Werte infrage stellt, die uns wichtig sind!«
Der Gitarrist mit dem markanten Haarschnitt mag bestreiten, dass Billy Talent eine politische Band sind. Der Song »Afraid of Heights« mag zunächst als Beziehungsgeschichte über Verlustängste entstanden sein, ehe der Text im Gesamtzusammenhang der Platte eine weitere Bedeutungsebene bekam. Dass sich die vier Herren klar positionieren, ist nicht neu: Schon auf »Billy Talent II« findet sich mit »Worker Bees« ein bissiger Song an die Adresse des damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Das war vor zehn Jahren. In solch einem Zeitraum ist schon mancher, der lautstark gegen die Elterngeneration aufbegehrte, konservativen Denkmustern und Lebensentwürfen näher gerückt. »Das ist richtig«, räumt Ian ein, »aber es ist kein Naturgesetz, und Musik vermag diesen Prozess vielleicht hier und da aufzuhalten. Ich sehe bei unseren Shows eine neue Generation von Fans, die sich mit unseren Inhalten identifiziert, neben Leuten, die uns seit Langem begleiten. Ich nehme an, dass sich deren Haltung nicht dramatisch verändert hat. Diese Durchmischung im Publikum finde ich übrigens großartig. Es ist klasse, wenn Eltern mit ihrem Nachwuchs zu einem Konzert pilgern, wie es bei Bands wie Iron Maiden der Fall ist. Wenn das bei uns ähnlich funktioniert, macht mich das glücklich.« Zumal die Anhänger von Billy Talent offenbar eine Menge kreatives Potenzial haben. Im Vorfeld der Album-Veröffentlichung hatte man den Text zum Titelsong publik gemacht und dazu aufgerufen, sich künstlerisch mit ihm auseinanderzusetzen. Das Ergebnis war überwältigend. Ian: »Wir hatten nur mit einem Bruchteil dessen gerechnet, was für unsere ›Afraid of Heights‹-Gallery eingereicht wurde – vom Kurzfilm über Bilder bis zur eigenen Vertonung der Lyrics. Es ist beeindruckend zu sehen, was da zusammengekommen ist, und es wird nicht leicht werden zu entscheiden, welche Arbeiten wir auszeichnen wollen.« Den Favoriten der Band winken Preise wie ein Backstage-Besuch.
Offen ist derzeit, ob und wann Drummer Aaron Solowoniuk wieder auf der Bühne dabei sein wird. Seit 15 Jahren leidet er an multipler Sklerose. Im Vorfeld der Aufnahmen zur neuen Platte kam es zu einem Rückfall, der ihn nötigte, den Schlagzeughocker temporär zu räumen. Jordan Hastings von Alexisonfire sprang ein. »Wir kennen ihn schon ewig, und so hat das auch tadellos funktioniert«, kommentiert Ian die Situation. »Trotzdem fehlt uns Aaron, und wir drücken die Daumen, dass er schon bald wieder vollständig einsatzfähig sein wird. Leider ist der Krankheitsverlauf schwer kalkulierbar. Die neuen Songs ohne ihn einzuspielen war die härteste Entscheidung, die wir bis dato treffen mussten. Aaron hat sie mitgetragen und ist Jason mit Tipps zur Seite gestanden – es steht außer Frage, dass er weiterhin unser fester Drummer ist. Wir alle kennen uns seit der Highschool. Wir machen nicht nur zusammen Musik. Wir sind Freunde. Derzeit eben nicht vier, sondern fünf.«
Billy Talent Afraid of Heights
Warner
www.billytalent.de
Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 4/2016, erhältlich ab dem 1. Juli 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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