Die Kolonialgeschichte ist vor allem Kriminalgeschichte. Und nicht zuletzt Kunst- und Kulturgeschichte: Die Gemälde von Wassili Wereschtschagin zeigen die Schrecken der modernen Eroberungskriege. In der Literatur findet sich die Skrupellosigkeit und Brutalität der Kolonialherrschaft selten eindringlicher veranschaulicht als in der Figur des Elfenbeinhändlers Kurtz, die Joseph Conrad für seine Erzählung »Herz der Finsternis« kreiert hatte. Hannah Arendt fand in Kurtz’ Charakter – »durch und durch leer und hohl, leichtsinnig und weichlich, grausam und feige, voller Gier, aber ohne jede Kühnheit« –, für den der deutsche Kolonialist, »Afrikaforscher« und später von den Nazis glorifizierte Carl Peters Modell gestanden hat, das Wesen autoritärer Führer und Tyrannen verkörpert. Nicht zufällig wählte Francis Ford Coppola Conrads »Herz der Finsternis« als Vorlage für sein postmodernes Vietnamkriegsspektakel »Apocalypse Now« und ließ Kurtz wieder aufleben (Moshe Zuckermann wird es in diesem Heft aufgreifen).
Und nicht zufällig war es auch Joseph Conrad, ein entsetzter Zeitzeuge der ersten Blütejahre des modernen Imperialismus und dessen ausgeklügelter Ideologieproduktion, der ein Verständnis von Kunst in die Waagschale geworfen hat, das das Wahrheitsmoment in den Mittelpunkt stellt: Sie sei der »redliche Versuch, der sichtbaren Welt höchste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem sie die Wahrheit, die Wesenheit – vielfältig und doch die eine –, die jeder ihrer Erscheinungsformen zugrunde liegt, ans Licht hebt«.
Dieser Agenda fühlt sich M&R zutiefst verbunden. Ganz besonders, wenn das Titelthema Kolonialismus in einer Zeit auf der Tagesordnung steht, in der die von ihm aufgetanen menschlichen Abgründe und der gewaltige Komplex rassistischer Ideologie (die heute in der Hetze gegen Flüchtlinge aus Afrika und in der grassierenden Islamophobie ebenso Fortsetzung findet wie in der Fetischisierung der »westlichen Zivilisation«) uns schmerzhaft vor Augen führen: Der Imperialismus und seine Propaganda feiern fröhliche Urstände.
Umso wichtiger ist es, im Gegenzug den Geknechteten und ihrer Kultur in den Zentren des Imperiums Räume zu erobern, um ihrem Schmerz, ihren Traumata, aber auch ihrem Widerstand und ihren Visionen zum Ausdruck zu verhelfen. Genau das hat sich die M&R-Redaktion für diese Ausgabe (einmal wieder) vorgenommen, die u. a. der Musik von Salif Keïta und Fela Kuti gewidmet ist. Mit der Asian Dub Foundation aus London, die schon früh eine Antithese zu Tony Blairs Britpop formulierten, sprachen wir über »Weltmusik«, die Aneignung, aber auch den Einfluss indigener Kultur.
Der Kapitalismus kann nicht anders, als mit den Mitteln für seine Herrschaftssicherung auch immer die Mittel für seine eigene Abschaffung zu produzieren. Das gilt ebenso für seine hässliche Ausgeburt, den Kolonialismus: »Es gibt keine Unterjochung, ohne dass die unterdrückte Kultur auf die herrschende zurückwirkt, sie unterminiert und verändert«, schreibt M&R-Autor Diego Castro in seinem Aufsatz »Der koloniale Blick und seine Subversion«. Nirgendwo wird das augenscheinlicher als in der Popmusik. Wir nehmen diese tönende Herr-Knecht-Dialektik in M&R 4/15 gründlich unter die Lupe und suchen nach den Bruchstellen des inhumanen Systems, das immer wieder neue imperialistische Raubzüge forciert. Liebe Leser, bitte helfen Sie uns dabei – dann geht’s schneller.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R