Der österreichische Bildhauer Alfred Hrdlicka sagte in den 1970er-Jahren mit einer historisch-materialistischen Ästhetik des Fleisches der bürgerlichen Kunst und deren Tendenz zur Gegenstandslosigkeit den Kampf an. Mit seiner antiidealistischen Huldigung der Macht des Fleisches, die im Zentrum seiner Kunsttheorie und -praxis stand, protestierte er gegen die ideologische Verdoppelung der Entmenschlichung in der von Entfremdung gezeichneten warenproduzierenden Gesellschaft durch die abstrakte Kunst der Postmoderne. Dagegen würdigte er das »geile Fleisch« als Schöpfer allen Lebens und konfrontierte den Betrachter schonungslos mit dem »geschundenen Fleisch« als Opfer einer Ideologie, die sich ebenso gegen den Menschen richtet wie gegen die Natur, in der dieser als an einen empfindungsfähigen Leib (die materialistische Grundbedingung seiner Existenz) gebundenes Wesen eine Einheit mit den Tieren bildet. Von der zunehmenden Zerstörung dieser »Fleischheit« zeugen Hrdlickas »Fleischmarkthallengeschöpfe«. Sie zeigen die Unterdrückten allerdings nicht nur als das, was sie ihren Ausbeutern sind – nämlich Schlachtvieh. Indem Hrdlicka Jesus vom Agnus Dei zum aufständischen Menschen inkarniert, der nicht weniger auf sich genommen hat, als uns zur Weltrevolution zu führen, erinnert Hrdlicka auch an das emanzipative Potenzial des verdammten Fleischs dieser Erde.
Diese von marxistischer Kunst hervorgebrachten Erkenntnisse sind heute durch den Kunstmarktradikalismus des seit den 1990er-Jahren totalitär herrschenden Kapitalismus weitgehend verdrängt worden. Wie die US-amerikanische Autorin Julie P. Torrant in dieser Ausgabe darlegt, ist diese Verwahrlosung des kritischen Bewusstseins nicht zuletzt einer verblendeten akademischen Linken zu verdanken, die einen »Neuen Materialismus« anpreist, der sich als Verlängerung des vom Poststrukturalismus propagierten idealistischen Irrwegs erweist. Durch eine Identifikation mit Geist wird Fleisch entmaterialisiert und durch Abstraktion von seiner Beziehung zu den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen der Blick auf eine von Pier Paolo Pasolini ausgesprochene Wahrheit verstellt, die für das Verständnis der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen wesentlich ist: »Die soziale Lage eines Individuums erkennt man an seinem Fleisch. Denn es wird physisch geformt durch die erzieherische Wirkung der Materie, aus der seine Welt besteht.«
Die Vulgärform idealistischer Ignoranz gegenüber der materiellen Lebensrealität des Menschen erfreut sich des Zuspruchs durch eine längst dem Posthumanismus frönende Poplinke – deren Mehrheit nicht nur dem Klassenkampf entsagt hat, sondern ihn längst im Bunde mit den Herrschenden führt. Je mehr sie sich dabei an der Reklame für die Kriege des westlichen Imperiums und damit an der Produktion geschundenen Fleischs beteiligt, desto fanatischer treibt sie die ideologische Verhüllung der Alltagsbarbarei durch »gendergerechte« Umbenennung des Unsäglichen voran. Und je rigoroser sie sich der Fetischisierung von Sex als Konsumgut verschreibt, das sich jeglicher Liebe entschlagen hat, desto tiefer ist ihr Hass auf den letzten Rest geilen Fleisches, das sich heute noch in proletarischer Kultur gegen seine Zerhackstückelung auf dem deregulierten Arbeitsmarkt aufbäumt.
Mit dieser Ausgabe wollen wir Solidarität mit dem quälbaren Fleisch gegen die Obszönität der Gewalt seiner Unterdrückung setzen und sozialistische Fleischeslust gegen die Pornografie, die den Körper verdinglicht.
Liebe Leser, Alfred Hrdlicka hat einmal gesagt, ein Künstler, der sich den herrschenden Verhältnissen anpasst, sei »ein Schwein«. Das gilt letztlich für uns alle, solange Mensch und Natur zur Sau gemacht werden. Daher trotzen wir den Fleischverächtern und ihrer nekrophilen Begeisterung für das Gemetzel auf den Schlachtfeldern und in den Schlachthöfen mit radikaler Menschlichkeit.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R
Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 3/2021, erhältlich ab dem 18. Juni 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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