Der Abwurf der »Mutter aller Bomben« über Afghanistan sei, »what freedom looks like«, vermeldete der Sender Fox News den Angriff der US-amerikanischen Luftwaffe am 13. April euphorisch. Damit lässt sich der Grad, den die Pervertierung des Freiheitsbegriffs mittlerweile erreicht hat, erahnen. Dieser Zynismus offenbart aber auch eine Wahrheit: Die »Freiheit«, die der Westen meint, ist ein Auslaufmodell und wohl nur noch durch Einsatz von Waffengewalt an den Mann zu bringen. Denn es soll ja gar nicht die freie Entfaltung und Selbstverwirklichung des Individuums erstritten werden. Es geht um freie Märkte und freie Wege für die räuberische Aneignung von spottbilliger Arbeitskraft und Rohstoffen – die Durchsetzung von Kapitalinteressen.
Wenn wahre Freiheit also nicht zu haben ist, dann wird eben der Begriff davon mit dem schlechten Bestehenden kompatibel gemacht. Indem Werbestrategen sich der Ikonografie sozialer Kämpfe bedienen, die mit der Ästhetik des Widerstands aufgeladen ist, lassen sie den zweifelhaften Genuss einer klebrigen Brause als Eintritt in eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten erscheinen. Nicht zuletzt die Aggressivität, mit der uns diese falschen Glücksversprechen der Reklame aufgedrängt werden, veranlasste den Theaterregisseur Johann Kresnik, den wir als Kolumnisten für diese Ausgabe gewinnen konnten, den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand in Anlehnung an Pier Paolo Pasolini als »Konsumfaschismus« zu bezeichnen.
»Auch über den Stimmzettel hinaus gewähren die Herrschenden dem Volk den Schein der Freiheit«, meinte Alfred Döblin. Wenn das Volk nichts zu melden hat, dann wird Demokratie halt im Theater gespielt: Ferdinand von Schirach lässt das Publikum in seinem Stück »Terror« ein Urteil fällen, das allerdings keinerlei Folgen hat – eine »kümmerliche Form der Beteiligung wie bei den niederen Formaten des Privatfernsehens«, schreibt Kai Köhler, der für M&R partizipative Ansätze im Theater analysiert. Darin zeigt sich auch der Widerspruch zwischen dem von der bürgerlichen Gesellschaft hochgehaltenen Kunstfreiheit-Prinzip und der sie aufrechterhaltenden Klassenhierarchie, mit dem sich Moshe Zuckermann in diesem Heft auseinandersetzt.
Aber trotz ihres affirmativen Charakters: Der Schein, den Kunst hervorbringt, hat die Macht, herrschende Ideologie zu hintergehen. Indem die Kunst sich ein eigenes Universum schafft, distanziert sie sich immer auch von der entfremdeten Gesellschaft; da sie sich gleichzeitig auf sie bezieht, macht sie mit ihrer von der Entfremdung entfremdeten Produktion von Schein Widersprüche sichtbar, die in der Realität etwa von der Politik verhüllt werden – zum Beispiel durch die repräsentative Demokratie, die den Menschen echte Mitbestimmung und freie Wahl verheißt, die sie gar nicht haben.
Am 24. September sind wir wieder einmal angehalten, uns an die Urnen zu begeben. Dabei dürfen wir uns voraussichtlich nur zwischen einer GroKo unter Angela Merkel und einer GroKo unter Martin Schulz entscheiden (und bekommen so oder so eine noch größere Kluft zwischen Arm und Reich). Eine echte Alternative ist nicht in Sicht, denn das Gros der Linken übt sich in Staatsräson und NATO-Korporatismus. Ist es nicht höchste Zeit, über den Wiederaufbau einer starken Fundamentalopposition und eine Offensive für Gegenkultur nachzudenken? Liebe Leser, wir meinen ja – und hoffen, Ihnen mit dieser Ausgabe einige Inspirationen dafür zu liefern.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R
