Großstadt-Hippies auf der Suche nach dem Glück
Christoph Schrag
Rocco Horn ist einer, der nächtelang diskutieren kann. Das sollte man wissen, bevor man sich ein Bier (und für ihn einen Tee) bestellt. Die großen Fragen der Menschheit sind ja nach wie vor nicht geklärt. Zu denen gelangt man im Gespräch mit ihm, noch bevor das Glas halbleer ist. Oder ist es dann noch halbvoll?
Rocco ist eine Hälfte der Berliner Band Berge. Die andere heißt Marianne Neumann – die Stimme des Duos. Kennengelernt haben sich die beiden bereits vor zwölf Jahren in Berlin, wo sie geboren sind. Genauso lange schreiben sie gemeinsam Songs. Erst als Duo, dann als Band mit immer neuen Musikern und Sounds und schließlich wieder als Duo. An ihrem Album »Vor uns die Sinnflut«, das nun ihr Debüt bei einer großen Plattenfirma ist, haben sie fünf Jahre lang gearbeitet – eine fortwährende Suche danach, was ihre Musik sein, wie sie klingen und was sie bewirken soll. Ganz recht: bewirken. Berge verstehen sich nämlich als eine Art Vision, eine, die von zwei Musikern vorausgeworfen wird und der sich viele Menschen anschließen, die ähnlich denken wie Marianne und Rocco. Eine kleine Bewegung.
Die Gabe zur Begeisterung hatten Berge schon früh. Zur Veröffentlichung ihres Albums von 2009 spielten sie vor ausverkauftem Haus im Berliner Lido. 500 Leute. Dabei kannte diese Band eigentlich niemand. Heute können Berge mal eben zu einer 20-köpfigen Band anwachsen oder einen Chor auftreiben. All das soll auch den tieferen Sinn ihres Musikmachens verdeutlichen. Das Wir-Gefühl, von dem sich die Großstadt-Hippies nichts weniger als einen neuen Lebensstil erhoffen. Wenn Berge vom Glück als einem fünften Element singen, dann geht es nicht um das persönliche, das sonst Dreh- und Angelpunkt der Popmusik ist – es geht ihnen um unser Glück: »Ihr und wir gemeinsam«, ist Kern der Idee. Sie nehmen die Musik, sich selbst und ihre Hörer in die Pflicht. Daher ihre Lieder über Umwelt- und Tierschutz. Da verwundert es auch nicht, dass Berge jedes Jahr die »Stiftung Mensch« mit Konzerten unterstützen.
Die beiden Berliner haben die Scheu davor abgelegt, ihre Glückssuche öffentlich zu machen. Warum also nicht mit einem Schamanen einen Song aufnehmen, wenn es sich gut anfühlt? Warum nicht mal ein Album in der sagenhaften 432-Hertz-Stimmung aufnehmen, wenn das angenehmer für das Ohr sein soll? Esoterik? Naivität? Vielleicht auch. Aber Musik ist schließlich schwingende Luft. Und wenn Luft das Einzige ist, was Menschen voneinander trennt, dann darf man Musik wohl als Brücke zwischen Menschen verstehen. Wie diese Brücken am besten gebaut werden sollten, das ist die Frage, der sich Berge seit Jahren widmen. In Studios und auf Bühnen und in vielen durchdiskutierten Nächten. Bei einem Bier vielleicht oder einem Tee.
Berge Vor uns die Sinnflut
Columbia
www.hoertberge.de
Der Beitrag erscheint in der Melodie und Rhythmus 3/2015, erhältlich ab dem 30. April 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.