Ein schwarzes Kalendarium führt penibel Buch über tote Musiker
Lebt eigentlich (an dieser Stelle bitte an einen Musiker denken, von dem Sie seit Jahren nichts mehr gehört haben) noch? Diese Frage stellt sich öfter, als man glaubt. Auch in ihrer umgekehrten Version, als erstaunter Ausruf, wenn man einen früher verehrten Star plötzlich als Pausenfüller im ZDF-Sommergarten sieht: Was, der lebt noch?
Ach, gäbe es doch ein Nachschlagewerk, in dem die toten Musiker und Musikerinnen vereint sind, seufzt man. Und zack!, liegt es auf dem Tisch. Freund Hein inspirierte 2008 die vier Berliner Stefan Hauser, Manja Ebert, Milan Tillich und Oliver Höckner, das Kalendarium »The Beat Goes On« herauszugeben. 2012 wird ein Jubiläum gefeiert: Fünf Jahre mit dem Sensenmann auf du und du.
Der Titel »The Beat Goes On« ist süffisant, denn selbstverständlich geht für den, dessen Name im Kalendarium eingetragen wird, nichts mehr on. Das Lebenslicht ist ausgeknippst, die Leber schwimmt nicht mehr im Alkohol, das Raucherbein ist Futter für nikotinaffine Würmer. Entsprechend pietätvoll ist das Kalendarium gestaltet. Es liegt wie ein Gesangbuch in der Hand, bezogen mit schwarzem Leinen, darauf in dezenter goldener Schrift der Ti eldruck. Auf der Rückseite dann ein erster Scherz: ein kleiner stilisierter Grabstein mit fünf Strichen, für jedes Kalendarium einer. Denn auch der Kalender ist vergänglich, er wandert nach Silvester aus der Tasche ins Regal und fristet dort ein stilles Dasein, bis er vergessen und verstaubt ins Antiquariat gegeben wird.
Wenn man die Seiten als Daumenkino durch die Finger gleiten lässt, winkt ein kleiner Sensenmann. Für Notizen ist pro Kalendertag eine Seite reserviert, an deren unterem Rand die Todesfälle aufgelistet sind. In jeder Woche wird ein »Death of the Week« ganzseitig gewürdigt, und im Index sind alle Todesfälle auf 14 eng bedruckten Seiten aufgelistet, von 2Pac (13.9.1996) bis Zoi, Wiktor (15.8.1990). Die Auswahl ist durchaus subjektiv, man kann den Eindruck haben, in Deutschland stirbt ein Musiker nur selten, und ein prominenter Toter (21.6.1998) wird sogar im Vorwort offen boykottiert. Doch daran soll sich keiner stören. Wer seit Jahren diese exquisite prämortale Arbeit leistet, darf sich den Luxus einer rigorosen Todesliste gönnen.
Jürgen Winkler
Der Beitrag erscheint in der melodie&rhythmus 6/2011, erhältlich ab dem 2. November 2011 am Kiosk oder im Abonnement.
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