Wenn die Krisen des Kapitalismus akkumulieren, wird sein Regime brutaler. »I can’t breathe« – dieser Hilfeschrei von George Floyd und anderen Opfern rassistischer Polizeigewalt könnte in der andauernden Covid-19-Pandemie perspektivisch vom Weckruf an die unterdrückten Minderheiten in den USA zum Fanal für die Verdammten der ganzen Erde werden. Schließlich haben die ökonomischen Supereliten aus der Coronatragödie noch dreister Profit geschlagen als aus der Bankenkrise 2007; laut Forbes-Magazin besitzen die 25 reichsten Kapitalisten der Welt mittlerweile insgesamt 255 Milliarden Dollar mehr als vorher. Ein Riesenheer von Lohnabhängigen ist derweil durch die krisenverschärfte sozialdarwinistische Auslese ins Massenelend gestürzt worden. Viele sind auch einfach gestorben, denn für die meisten Malocher gab es keinen Shutdown – gegen den sich Wohlhabende aus Angst um ihre Pfründe nicht schämten, aus der sicheren Entfernung ihrer Luxusvillen heraus zu protestieren.
Die wachsende Gefahr, dass sich die Erniedrigten und Geschundenen das nicht mehr gefallen lassen, federt der Kapitalismus mit der Intensivierung seiner Ideologieproduktion ab, die vor allem auf die Verschleierung der Klassenstruktur unserer Gesellschaft zielt – heute ist eine gigantische Armada von Medien, Denkfabriken, Stiftungen mit kaum mehr etwas anderem beschäftigt. Die Verblendung wirkt bis tief hinein ins politische Rückenmark der Linken: Immer häufiger finden sich»demokratische Sozialisten« oder postmarxistische »Wertkritiker« an der vordersten Propagandafront, wenn es darum geht, den Arbeitern das Klassenbewusstsein und den Willen zum Widerstand auszutreiben.
»›Ausbeutung‹ erhält den Rang eines Hetzbegriffs, mit dem sich vielleicht noch die Staatsanwaltschaft, nicht aber die Wissenschaft beschäftigen darf«, bemerkte der Ökonom Guenther Sandleben vor einigen Jahren und forderte in Anlehnung an Karl Marx eine gesellschaftliche »Parasitenforschung«, die insofern »rücksichtslos vorgehen« müsse, dass sie weder erschütternde Resultate fürchte noch Konflikte mit der herrschenden Klasse scheue.
Mit unserer »Eliten«-Ausgabe wollen wir zu diesem Forschungsprojekt einen Beitrag leisten. Denn wie rabiat das Kapital den Kampf um die Köpfe auch auf dem Feld von Kunst und Kultur führt, wird allein deutlich, wenn immer mal wieder Stimmung gegen Aufführungen von Peter Weiss’ Theaterstück »Die Ermittlung« gemacht wird (weil darin die NS-Verbrecher-Bourgeoisie beim Namen genannt wird) – Versuche, repressiv auf die Kunstfreiheit einzuwirken, mit denen wir uns in diesem Heft beschäftigen.
Einfluss, Präsenz, Darstellung und Rezeption von Eliten auf den Bühnen, in der Architektur, im Film und nicht zuletzt auf dem Kunstmarkt aufklärerisch zu beleuchten, bedeutet aber auch, die Unterschiede zwischen Elite und herrschender Klasse zu begreifen. Nicht erst wenn Springer-Konzern-Vorstände schon den kleinsten Schritt in Richtung humaner Flüchtlingspolitik und Klimaschutz als Zumutung von »denen da oben« anprangern oder verblödete Kochbuchautoren gegen ein von ihnen herbeihalluziniertes Weltkartell »böser Mächte« trommeln, gilt es zu erkennen: Nicht alles, was als »Elitenkritik« daherkommt, ist emanzipativ; nicht selten dient es camouflierten Kapitalinteressen oder rechter Hasspropaganda gegen wehrlose Minderheiten – manchmal auch einfach der Pflege von Ressentiments gegen kritische Intelligenz und gute Kunst.
Sie ahnen es schon, liebe Leser, auch bei der Lektüre dieser Ausgabe verlangen wir Ihnen mal wieder einige Anstrengungen ab. Aber sicher nicht, weil wir Elitismus predigen wollen – nein, wir wollen Sie einfach nur ermutigen, sich ganz nach vorn in die erste Reihe zu drängeln, wenn es so weit ist, unmenschliche Verhältnisse umzuwerfen und eine solidarische Welt aufzubauen.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R