Melodie & Rhythmus

Editorial: Tigersprünge

29.03.2017 14:53

editorial

Wir gehen keinen Schritt weiter. Es ist ein Sprung, zu dem der Herausgeber und die Redaktion mit dem Relaunch von Melodie & Rhythmus ansetzen. Denn sie mausert sich damit nicht nur von einer Musik- zu einer Kulturzeitschrift. Sie tritt als Magazin für Gegenkultur an. Dabei ist das »Gegen« nicht als Beschwerde oder Nörgelei über irgendwelche partikularen Missstände in unserer Gesellschaft zu verstehen. Es geht auch nicht nur darum, sich Freiräume fürs Anderssein jenseits des Mainstreams zu erobern. M&R will nichts weniger, als der Fundamentalopposition zum bestehenden schlechten Ganzen zu kulturellem Ausdruck, vor allem zu ihrem Recht auf Formierung und Organisation von (ästhetischem) Widerstand zu verhelfen.

Das ist eine immense Herausforderung, denn die Lage ist denkbar ungünstig: Die antikapitalistische Linke, erst recht die revolutionären Bewegungen sind sehr geschwächt, wenn nicht zerschlagen. Es tritt sukzessive ein, was die innere, nach Totalität strebende Strukturlogik des Neoliberalismus forciert: die Integration und (Zwangs-)Rekrutierung oppositioneller Kräfte durch Ausbeutung und Vereinnahmung ihrer Kunst, Kultur und Werte. Wie in der Sprache der Politik der Begriff »Freiheit« zur Chiffre für Marktradikalismus verkommen ist und gegen alle in Stellung gebracht wird, die an der Idee der wahren Freiheit für den Menschen festhalten, vereinnahmen auf der Ebene der Kultur beispielsweise die Ideologen des Radical Chic den Hip-Hop – ursprünglich eine Ausdrucksform unterdrückter Minderheiten – als Reklame für Eskapismus und Luxusurlaub im Grandhotel Abgrund.

Wie immer in Zeiten von Krisen und Orientierungslosigkeit entdecken zu allem Übel Neonazis, national- und neokonservative Rechte, deren Sponsoren aus den ökonomischen Eliten samt politischem Personal aus der völlig verrohten »bürgerlichen Mitte« ihre Möglichkeiten. Sie attackieren z. B. Kulturschaffende, die noch Klartext gegen die Militarisierung und das Großmachtstreben Deutschlands reden: Wenn ein Fallschirmjägerbataillon der Bundeswehr, wie vor einiger Zeit geschehen, auf seiner Internetseite ankündigt, sich mal um den aktiven Kriegsgegner Konstantin Wecker zu »kümmern«, dann ist das als die Drohung zu verstehen, als die es auch gemeint ist – und noch ein Grund mehr für M&R, Konstantin Wecker zu seinem 70. Geburtstag zu würdigen. Genau das tun wir in dieser Ausgabe mit einem vierseitigen Feature, im Konzert mit namhaften Freunden des Liedermachers. Denn Zeichen der Solidarität zu setzen mit Künstlern, die auch in unbequemen Zeiten noch den aufrichtigen Willen und Mut aufbringen, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten, begreifen wir als eine der vornehmsten Pflichten eines Magazins für Gegenkultur, das wir mit dieser Ausgabe auf den Weg bringen.

Nicht nur ein Sprung – es ist ein Tigersprung unter den freien Himmel der Geschichte linker Medien, den M&R wagt, um es mal in Anlehnung an eine Passage aus Walter Benjamins »Geschichtsphilosophischen Thesen« auszudrücken. Ob er gelingen kann, ist ungewiss. Sicher ist nur: Wenn Sie und viele, viele neue Leser und Mitstreiter, die wir zukünftig dazugewinnen wollen, nicht davon überzeugt sind, dass unabhängige oppositionelle Kultur samt den Medien, die sie begleiten, selten so dringend gebraucht wurden wie heute, wird er im Aus landen. Denn dass unser Tigersprung in »einer Arena stattfindet, wo die herrschende Klasse kommandiert« – das werden wir nicht zulassen!

Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R

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