Wir sind wieder auferstanden. Nicht aus Ruinen, aber aus einer Krise, die vor einem Jahr zum Kollaps führte. Ohne die Kollegen aus dem Verlag, die noch eine Schippe draufgelegt, und die vielen Künstler, die uns mit einer Kampagne unterstützt haben, wären wir nicht wieder auf die Beine gekommen – allemal nicht ohne Sie, die vielen Leser, die uns die Treue gehalten haben!
Diese Solidarität ist unsere Verpflichtung. Wir melden uns mit nichts weniger zurück als mit einem ambitionierten Projekt: Mit einem Entwurf eines eigenen Manifests für Gegenkultur mischen wir uns in die linken Kulturdebatten ein.
Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Welt für emanzipative Bewegungen mit Brettern vernagelt scheint? In der die real existierenden schlechten Verhältnisse sogar noch in ein Herrschaftssystem abzurutschen drohen, dessen zentrales Strukturmerkmal die Barbarei ist? Ja – gerade diese angespannte historische Periode, die Demagogen als »Schleusenzeit« in eine rechte Kulturhegemonie nutzen wollen, verlangt nach schonungslos kritischem Denken und couragiertem Handeln.
Die kunst- und kulturtheoretischen Ankerpunkte dafür finden sich weniger in der Gegenwart, in der immer mehr linke Akteure aus dem Kulturbetrieb sich willfährig dem Krisenkorporatismus hingeben oder sich in die machtgestützte Innerlichkeit verabschieden, als in vergangenen stürmischen Zeiten: bei Eisler, Brecht, Dessau, Benjamin, die mit Faschisten an der Macht konfrontiert waren. Dem »Röhren und Grölen der Reaktion« sei mit einer »neuen Bestimmtheit und Entschlossenheit« zu begegnen, formulierte der Komponist Hans Werner Henze nach dem Pinochet-Putsch 1973 die historische Aufgabe der antifaschistischen Kunst und löste sie mit einer Ästhetik der Unbeugsamkeit aller vom Willen zum Umsturz beseelten Unterdrückten. »Wenn das Wasser zu tief ist, werden wir schwimmen. Wenn die Strömung zu stark ist, werden wir Boote bauen. Wir werden auf die andere Seite kommen. Wir haben gelernt zu marschieren, wir können nicht mehr untergehen«, lässt er sie in der ergreifenden Schlussszene seiner Oper »Wir erreichen den Fluss« singen.
Einige Jahre vorher hatte Henze gefordert, dass die Musik die gesellschaftlichen Widersprüche aufnehmen und »wie ein Spiegel zurückwerfen« solle, allerdings auch festgestellt: »Das Problem aber, wie ein solches dialektisches Musikdenken sich gesellschaftlich vermittele, ist ein Klassenproblem, das nicht gelöst werden kann außerhalb des revolutionären Prozesses.« Diese Erkenntnis war grundlegend für alle politischen Werke Henzes, etwa »Das Floß der Medusa«, an das wir in diesem Heft anlässlich des 50. Jahrestages seiner von der Polizei auseinandergeprügelten Uraufführung erinnern. Und sie hat auch in unseren Manifest-Entwurf Eingang gefunden in der Aufforderung an alle Künstler und Kulturschaffenden, neue revolutionäre Perspektiven mit zu entfalten.
Damit wir aber nicht im Sumpf der Illusionen, falschen Versprechen und Lügen der Kulturindustrie landen, müssen wir auch die ideologischen Fallstricke aufzeigen, über die man unweigerlich stolpern wird, wenn man die gegenwärtige Verstelltheit einer revolutionären Kunst- und Kulturpraxis nicht mitreflektiert und deren Gründe nicht analysiert. Daher werden wir unser »Manifest für Gegenkultur« in den nächsten Wochen von kritischen Künstlern und Intellektuellen gründlich kommentieren und diskutieren lassen.
Liebe Leser, Sie sehen, statt uns auf dem Erfolg des geglückten Neustarts auszuruhen, wollen wir uns lieber der drängenden aktuellen Herausforderungen mit streitbarem Kulturjournalismus annehmen und uns des Vertrauens, das Sie uns schenken, als würdig erweisen.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R