Melodie & Rhythmus

Die Vision

25.08.2015 15:37
Foto: Bundesarchiv

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25 Jahre DDR-Musik-Museum: Warum die darin präsentierte Ost-Mugge die Zeiten überdauern wird. Auskünfte von Reinhold Andert

titelGerd Schumann

Ein Vierteljahrhundert nach der DDR – ein Vierteljahrhundert! Wer sich auf die Spuren einer, so die Behauptung, mit dem Land weitgehend verschwundenen Kultur begeben möchte, muss also schon einen Zeitsprung von drei oder vier, mindestens aber zwei Generationen zurück unternehmen. »Back to the roots« – um zu erfahren, ob nicht doch etwas vom vor 25 Jahren gefällten Baum bleibt. Und wenn ja, was. Willkommen also im DDR-Musik-Museum! Präsentiert wird Ost-Mugge, Zeitzeugen liefern dazu den »O-Ton Ost« und regen, ausgestattet mit der Erfahrung von Jahrzehnten, zum Weiterdenken an.

Wenn zum Beispiel die Renft-Tragödie im Museum gezeigt wird, oder die Behinderungen, denen sich Ernst Busch, Hanns Eisler, ja sogar Bertolt Brecht zu erwehren hatten. Oder wenn der ignorante, zerstörerische Umgang mit Werner Bräunig und seinem bahnbrechenden Roman »Rummelplatz« ausgestellt wird. Dann drängt sich nicht nur die Frage nach der Arroganz Mächtiger auf – die mit Sozialismus nichts zu tun haben dürfte, und die doch entstand –, sondern auch nach den Inhalten der Kunstwerke. Denn die bestehen weiter. Sie haben viel mit den Träumen der Menschheit von einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Krieg zu tun, mit Solidarität, Menschlichkeit und Gerechtigkeit.

Der Liedermacher Reinhold Andert sang davon: »Hier schaff ich selber, was ich einmal werde / Hier geb‘ ich meinem Leben einen Sinn / Hier hab ich meinen Teil von unsrer Erde / Der kann so werden, wie ich selber bin.« Nun, da der Traum von einer Art aktiven Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft längst aus ist, gelte es, sich an ihn zu erinnern. Einerseits sei das Nostalgie, andererseits … – »sind es diese ›Zeiten DDR‹. Die haben gedanklich viel Gutes geschaffen, aber auch viel Mist wurde gebaut.« Andert: »Jetzt muss der Mist weg, es gilt ja, das Gute zu bewahren und es für künftige Zeiten wieder hervorzuholen. Die Verstaatlichung der Betriebe und Banken – das ist doch eine ganz wunderbare Sache. Die gehört in die kommende Gesellschaft wieder mit rein. Und dazu gehören auch ein paar Lieder in die neue Gesellschaft.« Der Kapitalismus zumindest werde absehbar abgewirtschaftet sein. Insofern seien die Songs »als historisches Dokument auch eine reale Aufgabe für später«.

Nein, das sind keine Worthülsen, besonders dann nicht, wenn weltweit alle fünf Sekunden ein Kind verhungert. Oder Napalmbomben Menschenhaut zum Brennen bringen. Oder Flüchtlinge zu Tausenden ertrinken. Oder Köpfe abgeschnitten werden und Gefangene in geheimen Folterzentren schreien, unerhört einsam.

Reinhold Andert, Jahrgang 1944, lebt schon ewig im alten Osten, Berlin, Leipziger Straße, mehrmalige Umzüge wegen Familienvergrößerung oder musikempfindlicher Nachbarn. Natürlich ist er grau geworden über die Jahre, über den Ärger, den Stress, die Enttäuschung. 1980 flog der Liedermacher, Philosoph und Historiker – er würde den »Philosophen« zuerst nennen – aus der Partei der Arbeiterklasse, wie sich die SED nannte. Vermutlich hatte er weder deren Politbüro noch deren Berliner Chef nebst Schauspieler-Gattin ernst genug genommen, als er Scherze über sie abließ. Es folgte eine lange Dürre als Musiker, Gerhard Gundermann, auch ein Ausgeschlossener, nahm ihn dann, ohne irgendwen zu fragen, mit auf eine kleine Tour.

»Das Programm hieß ›Morgen haun wir auf die Pauke‹. Es war satirisch angelegt. Ich habe Lieder gesungen, die ich in den zehn Jahren davor gemacht hatte.« Die meisten aus der Zeit davor indes waren angesichts des gesellschaftlichen Niedergangs out, nur schwerlich verwendungsfähig. Sie stammten aus der Singebewegung, Oktoberklub und vor allem aus Anderts Periode als »Politischer Liedermacher Nr. 1 der DDR« – so stand es zumindest 1973 auf seiner ersten und letzten in der BRD bei pläne verlegten LP »Blumen für die Hausgemeinschaft«.

Nun gräbt sich der Saphir in die Rille der auf meinem Plattenteller liegenden Vinyl-Scheibe. »Lied vom Klassenkampf«, »Lied über die Bedürfnisse«, »Lied vom Vaterland«. Erster Eindruck: Agitprop. Zweiter Eindruck: Schön erzählt und tief menschlich, vor allem die Eindrücke vom Roten Platz (»Vor dem Mausoleum«) und am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow (»Im Treptower Park«). Dritter Eindruck: Aus der Zeit gefallen. »Kennst Du das Land, wo die Fabriken uns gehören / Wo der Prometheus schon um fünf aufsteht / Hier kann man manche Faust auf manchen Tischen hören / Bevor dann wieder trotzdem was nicht geht / Wo sich auf Wohnungsämtern Hoffnungen verlieren / Wo ein Parteitag sich darüber Sorgen macht / Wo sich die Leute alles selber reparieren / Weil sie das Werkzeug haben, Wissen und die Macht« (»Lied vom Vaterland«).

Die DDR-Singebewegung, nach recht stürmischem Aufbruch zu Beginn der 1960er, ging weniger an der Musik zugrunde als letztlich daran, dass sich ihre Propagierung einer Neuen Welt schwer mit der Realität eines staatsstrukturell verankerten Misstrauens in Einklang bringen ließ. Die Verwaltung des Volkseigentums blieb ein Abenteuer mit manchmal ungutem Ausgang, derweil die Partei weniger die Weite sichtete, denn von oben auf unten herabschaute. Mit den Füßen in der Wolke und eben nicht mit dem Gesicht zum Volke (Gerhard Schöne, 1988).

Jedoch: Andert stellte Ideale dar, vielleicht um sie plastisch, handfest und also real zu machen. Indem er Mängel, Fehler, Nervereien benannte und über sie scherzte, erntete er als Reaktion nicht nur donnernden Szenen-Applaus, sondern auch so etwas wie befreiendes Massenlachen. Das befreite dann letztlich aber doch nicht.

1978 produzierte Amiga noch eine Scheibe mit Andert: »Ewald der Vertrauensmann«, nach dem gleichnamigen Lied vom idealistischen, unbestechlichen, unkonventionellen Genossen im Betrieb, geschrieben als Auftragsarbeit für den FDGB, der den Song dann nicht haben wollte. In seinen Liedern benutzte der Liedermacher weiter sein bekanntes Schema – Kritik in lustige Beispiele zu verpacken –, nur war die schärfer, bissiger, an die Adresse der Regierenden gerichtet. Deren »Ministerium zur Zerstreuung und Erbauung« zum Beispiel propagierte eine »Rohstoffkrise«, um Mangel zu erklären und erließ »Maßnahmen« mit bösen Folgen auch für den Kulturbetrieb: »Die Hälfte aller Konzerte hat zu unterbleiben. Da aber, auf Beschluss von Partei und Regierung, unsere Bevölkerung nicht die Folgen der kapitalistischen Krise zu tragen habe, werden die ausfallenden Konzerte von Schalmeienkapellen der Freien Deutschen Jugend bestritten« (»Das Märchen von der Rohstoffkrise«). Wer heute die Platte hört – ein Konzertmitschnitt aus Weimar –, ahnt, dass das Experiment, eine neue gerechte Gesellschaft zu schaffen, scheitern könnte. 1973 war noch Aufbruch, 1978 schon Desillusion.

Dass trotzdem – und manchmal sogar gerade deswegen – viele Akteure weitermachten und produzierten und aneckten, so dass manche Feder gelassen werden musste, weist auf die Kraft des Projekts hin. Die »Hammer-Rehwü« von 1982, Brigade Feuerstein und später Gundermanns »Männer, Frauen und Maschinen«; »Stirb mit mir ein Stück« von 1986, Wenzels tiefe Traurigkeit gemischt mit sowas wie Klarheit und doch noch einem Rest von Lichtschein, der im Dunkeln unter der Tür erkennbar ist. Bewegend. Oder die »Tagesreise« von der Horst-Krüger-Band und später Lift, klingt energetisch hochwertig etwas nach Frumpy und Blood, Sweat & Tears. Der Text konkret und philosophisch zugleich, weil: die Grundfragen gesellschaftlichen Handelns treffend. »Blieb ein Schritt, den ich tat, bestehn? / Und kann ich dem Freund in die Augen sehn? / Der Weg durch den Tag, brachte er mir Mut? / War er gut?«

Nach dem Ende der DDR, das zunächst sämtliche nationale Kultur und deren Protagonisten in tiefste Tiefen des Vergessens und des Ignoriert-Werdens stürzte, brachte Nebelhorn, der kleine Verlag von Stefan Körbel (u.a. Karls Enkel) eine Andert-Platte heraus: »Fürsten in Lumpen und Loden«. Die Mittel waren begrenzt und Liedermacher nicht mehr gefragt, auch der Dissident nicht. Später, 2004, erschien dann bei BuschFunk eine Doppel-CD, teils live, teils Konserve, eine Art aktualisierter Werkschau, und als solche wird sie jedenfalls Bestand haben – wie alles politische Lied den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entsprechend weniger oder mehr. Wobei: Mehr wäre besser.

Kunst hält durch. Andert: »Was gut ist, wird schon irgendwie bleiben. Künstlerische Qualität wird irgendwann wieder entdeckt, wieder hervorgeholt. Johann Sebastian Bach ist ja auch 200 Jahre lang vergessen worden. Die Sachen können mal eine Zeit lang verschüttet werden. Qualität bleibt.« Paul Dessau, Ernst Busch, Gisela May – er habe sie persönlich gekannt. »Brecht, Eisler – das sind so in Stein gemeißelte Wahrheiten. « Hinterlassenschaften in Worten und Noten, gedruckt, gesprochen, gesungen. Wenn Busch seine Lieder anstimmt. »Ernst Busch I-III«, schwarze Buchstaben auf weißer Hülle: Die LPs wurden in den Plattenläden der BRD der Anfang-70er massenhaft an langhaarige Post-Beat- Rebellen verkauft, Symbol für die Aufbruchstimmung jener Tage. Und wer will behaupten, jähe Politisierungen unter Einvernahme der »Oldies, but Goodies« seien künftig auszuschließen?

Was den DDR-Pop betrifft, lässt sich, nach dessen erzwungener Sendepause ab 1990, inzwischen konstatieren: Ein Mix aus Qualität und Geschäft realisiert auf dem Ost-Markt – der Westen bleibt frigide – nicht nur beachtliche Gewinne, sondern transportiert wohlige Gefühle ins kalte Hier-und-Heute der neuen Ellenbogengesellschaft. Die Erinnerung bleibt zunächst und wird auch irgendwie bleiben – verfremdet je nach Erfahrung und Wissen und Empathie in den Köpfen der Nachgeborenen, auch der jüngeren Bands, Musiker, Komponisten.

Wobei Vergessen-Gemachtes derzeit meist nur dann eine echte Chance hat, wenn es sich rechnet, also dem Sound der Industrie anpasst und nicht aneckt. Das rotzige »Wir wollen immer artig sein« von Feeling B. mit Aljoscha Rompe (1947-2000) und dem Rammstein-Organisten Christian »Flake« Lorenz aus den versoffen-aufmüpfigen End-80ern taugt heute zum harmlosen Mitgrölpunk. Der Staat ist dem Song abhanden gekommen. Der neue Staat braucht neue Lieder.

Aber nicht nur. Er braucht auch und dringender denn je die im Museum ausgestellten DDR-Objekte. Die regen bei ungetrübtem Hinhören dazu an, ihre Geschichte zu hinterfragen, warum die DDR-Kultur dem Westen Deutschlands tendenziell immer voraus war – und mehr als nur einen Schritt. Denn: Restauration eines antiquierten Systems, zumal unter prägender Einbeziehung von Teilen des vormals braunen Personals, unterschied sich grundsätzlich vom Versuch, etwas Neues, Gerechtes zu schaffen, ohne »Sklaven und Chefs« (Rio Reiser).

Im Systemvergleich DDR-BRD erzählen besonders die kulturell trüben wie miefigen Nachkriegs- und Ärmel-Aufkrempel- Jahre der Bonner Republik bis Mitte der 1960er davon. Dass die Beat-Generation nicht nur die Haare, sondern auch den Verstand sprießen ließ, hat nicht nur mit dem Konflikt der Generationen, sondern vor allem mit den Verdrängungskapazitäten der Ewiggestrigen und deren Macht zu tun. »The West is the best?« Nein: »Get here and we’ll do the rest.« Das war Prophetie, wenn auch von Jim Morrison und den Doors 1967 ungewollte: Selbst betroffen, liegend tot in einer Badewanne – sein »the best« hatte sich sowieso immer mehr wie »the badest« – nicht »the worst« – angehört: das Beste als das Schlechteste. Das war angesichts Vietnam nachvollziehbar damals. Und ist es heute noch mehr.

Gerd Schumann, geboren in Wilster (Holstein). Er arbeitete nach Redaktionsvolontariat als Journalist und lebt heute als Autor in Berlin

Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 5/2015, erhältlich ab dem 28. August 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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