
Putschgeneral Kenan Evren (M.) am Tag des Sieges, 1980
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Der Kampf des Kemalismus gegen den Islam um kulturelle Hegemonie hat im 20. Jahrhundert einen tiefen Riss in der türkischen Gesellschaft aufklaffen lassen. Heute versucht Erdoğans AKP vergeblich, ihn mit einer religiös verbrämten neoliberalen Ideologie zu kitten
Hakkı Özdal*
Er gilt in der Türkei als Gründer der bürgerlichen Republik: Mustafa Kemal Pascha, später Atatürk, war ein Offizier im Heer des Osmanischen Reiches. Insbesondere auf seinen militärisch-diplomatischen Missionen in Europa hatte er die politischen Ideen der Französischen Revolution verinnerlicht und sich auch intensiv mit der Philosophie der Aufklärung, dem Laizismus sowie der Kunst und Kultur in der westlichen Welt auseinandergesetzt.
Wenige Tage vor der bedeutenden Großen Offensive vom 26. bis 30. August 1922 im »Befreiungskrieg« gegen die griechische Armee in Westanatolien, die auf deren Vertreibung aus Izmir und damit das Ende der Besatzung abzielte, soll Mustafa Kemal an der Front mit dem Roman »Çalıkuşu« (Das Goldhähnchen) von Reşat Nuri Güntekin durch die Stellungen gelaufen sein und den Offizieren und Soldaten empfohlen haben, ihn zu lesen. Die Handlung des 1921 erschienenen Werks spielt in Istanbul und Anatolien und steht für die politischen und militärischen Umbrüche jener Zeit. Der Erste Weltkrieg und somit der Untergang des Osmanischen Reiches bilden den Hintergrund für die Erzählung von der unerfüllten Liebe einer jungen Frau, die als Lehrerin in Anatolien arbeitet: Feride findet sich inmitten eines Kampfes, in dem sie Zeugin bitterer Armut unter den Menschen, der durch die Instrumentalisierung ihres Glaubens entstandenen reaktionären Stimmung und des Verfalls von Bildung und Verwaltung wird. »Wie schön beschreibt es doch das vernachlässigte Anatolien«, erklärte Mustafa Kemal sein Interesse an dem Buch. Die darin aufscheinende Welt korrespondierte mit seinen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft, in denen Aufklärung, kultureller Wandel und Bildung im Zentrum stehen.
Nachdem ein Jahr später die Republik ausgerufen worden war, wurden dann auch die ersten bedeutenden Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Kultur und Religion getroffen. Auf der einen Seite wurde eine aufklärerische Agenda durchgesetzt und auf Grundlage westlicher Ideen das Bildungswesen neu organisiert, wobei man dessen Institutionen unter der Kontrolle des Staates zusammenführte. Auf der anderen Seite wurde der starke Einfluss der Religion durch einen radikalen, vom Staat kontrollierten Laizismus zurückgedrängt, der deren Abschaffung zum Ziel hatte. Der Wandel sollte durch eine Armee untermauert werden, die sich den Lehren der Republik verpflichten musste.
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*Hakkı Özdal ist Journalist und hat für Evrensel, Referans und Radikal sowie Evrensel Kültür als Kolumnist gearbeitet. Zurzeit schreibt er für die Online-Zeitung Gazete Duvar.
Übersetzung: Mehmet Çallı
Der komplette Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 3/2019, erhältlich ab dem 14. Juni 2019 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.