Berufung: »Stritery« – Straßenmusiker in Russland
Text und Fotos: Alexandre Sladkevich
Die rothaarige Schenja und der asiatisch aussehende »Adel« tatarischer Herkunft, beide knapp über 30 Jahre alt, nennen sich Zoommer. Das Duo steht fast täglich in der Stadtmitte Kasans, der Hauptstadt der zu Russland gehörenden Republik Tatarstan. Sie singen alte Lieder, die den meisten Menschen das Herz erwärmen. Auch eigene Lieder tragen sie vor. »Adel« arbeitete an einer Baustelle, auch als Chauffeur. Schenja war als Verkäuferin in einem Souvenirladen angestellt. Beide kündigten und gingen auf die Straße – sie folgten ihrer Berufung. »Es gibt Gerüchte, dass man die Straßenmusiker legalisieren wird, weil man verstanden hat, dass das auch Arbeit ist«, sagt Schenja. »Aber noch sind das nur Gerüchte. Doch die Polizei sieht, dass wir Gutes und Licht bringen. Sie lassen uns in Ruhe. Aber gleichzeitig fühlen wir uns nicht ganz erlaubt.« »Adel« fügt hinzu: »Das Wichtigste ist, dass ein Mensch das tut, wonach seine Seele strebt.«
Straßenmusik ist in der Kultur Russlands fest verankert. In der UdSSR waren die Stadtmusikanten fast jedem ein Begriff. 1969 widmete das Animationsfilmstudio Sojusmultfilm ihnen einen Zeichentrickfilm: Auf der einen Seite standen die wandernden Straßenmusiker, die die Freiheit verkörpert haben, auf der anderen Seite der Zar mit seiner Truppe und einem Privatdetektiv. Der Zeichentrickfilm wurde zum Kult. Die Strophen des Leitmotivs, »Wir werden unsere Berufung nicht vergessen, wir bringen den Menschen Lachen und Freude«, sind im kollektiven Gedächtnis geblieben.
Eine solche »Berufung« wohnte dem 1938 geborenen Jewgenij Malachow inne. Malachow, vor allem unter dem Künstlernamen Greis Bukaschkin bekannt, beschäftigte sich seit 1970 mit Fotografie. Er bediente sich der Lomografie – mit seiner ganz eigenen Bildsprache. Das war im damaligen Swerdlowsk, heute Jekaterinburg. Später fing der Wegbereiter der Straßenkunst an, im öffentlichen Raum der Hauptstadt des Urals zu malen. Er schuf die ersten Graffiti der Stadt. Es war Naive Kunst mit humorvollen humanistischen Dichtungen.
Um die Poesie den Menschen nahezubringen, greift man auf Musik zurück. Ende der 80er-Jahre gründete Bukaschkin die Band Kartinnik – das bedeutet »Bild«. Das Konzept war, die Tristesse aus der Stadt zu fegen, ihr Farbe zu geben. Die Passanten sollten in Bukaschkins Darbietungen eingebunden werden, um sie aus dem grauen Alltag zu erlösen, ihnen etwas Positives zu vermitteln. Mit einer Domra, Balalaika, Tamburin und dem einen oder anderen Blasinstrument trug der sich leicht gebückt bewegende Bukaschkin selbst gedichtete Lieder und Schnaderhüpfeln vor – improvisierte Gedichte, die aus nur einer Strophe bestehen.
Aus Abflussrohren und Pappe wurden Perkussionsinstrumente hergestellt. Kartinnik-Mitglieder tanzten, sangen, musizierten mit, und gleichzeitig verteilten sie an die Passanten Samisdat, selbstverlegte Büchlein, Holzbücher und kleine aus Holz geschnittene, bemalte, mit eingeritzten lustigen Reimen versehene Bilder. Diese Unikate waren Motivatoren. Mit großen leuchtenden Augen, Adlernase, einem wild gewachsenen Bart, Zöpfen, exzentrisch gekleidet mit zahlreichen Armbändern, mit an der Mütze oder an den Ärmeln befestigten Glocken oder mit Indianerfedern geschmückt, war der Greis der exotischste Künstler Swerdlowsks – auch über die Stadtgrenzen hinaus.
Obwohl seine Aktionen illegal waren, betrachtete ihn die Miliz als einen Narren und ließ ihn unbehelligt. 2005 starb er, und man begann zu verstehen, welche Bedeutung er gehabt hatte. 2008 wurde das Greis Bukaschkins Museum gegründet. Leiterin Tamara Galejewa erzählt: »Es ist nicht viel von seinem Schaf- fen erhalten. Nur bei wenigen Exponaten wissen wir ganz genau, dass er sie selbst hergestellt hat. Eines steht fest: Alles wurde unter seiner genauen Anleitung gemacht, und alle Gedichte stammen von ihm.«
In heutigem Russland trifft man Straßenmusiker von Sibirien bis zum Kaukasus. Sie bezeichnen sich als »Stritery« oder »Stritowschtschiki«. Das kommt von dem englischen Wort »Street«. Unter ihnen gibt es Arbeitsteilung: Der Striter musiziert und singt, und ein Schljapnik, ein »Hutmann«, reicht den Passanten eine Kopfbedeckung und bittet sie um Geld. Gelegentlich singt er mit. Man muss aber nicht zwangsläufig einen Schljap nik bei sich haben. Die Musiker grenzen sich von den sogenannten Gownari (»Scheißer«) ab, die, ohne Instrumente zu beherrschen und singen zu können, oft schmutzig und betrunken als Stritery daher kommen.
Roman Kadnikow (22) lebt im sibirischen Irkutsk. Er ist schwarz gekleidet, seine Gitarre ist ebenfalls schwarz. Unter seiner Mütze schauen lange blonde Haare hervor. »Ich bin Friseur von Beruf. Seit acht Jahren bin ich ein Striter. Aber das ist nur vorübergehend. Oft singe ich Graschdanskaja Oborona«, sagt Roman und meint eine legendäre Punkrock-Band und Underground-Ikone, die viele Generationen beeinflusst hat. »Das ist nicht ungefährlich. Die Polizei duldet es nicht, insbesondere das Lied ›Töte den Staat von innen‹. So habe ich schon einige Probleme gehabt.«
Bei Michail »Dread« (25), der einen Vollbart, eine Tätowierung an der Wange und bunte Patches auf der schwarzen Jacke hat, sieht es anders aus. Er beschäftigt sich mit Dreads-Filzen, tritt als Rapper in hiesigen Clubs auf und ist immer mit Roman als Schljapnik unterwegs. »Für mich ist das ein Hobby und gleichzeitig eine Geldquelle, und ich werde diese Tätigkeit weiterhin betreiben.«
Ein Gitarrist, Anton Udilow (22), der auf den ersten Blick etwas leise wirkt und doch relativ laut spricht, kommt dazu. »Ich habe sehr viele Kredite aufgenommen, und es ist fast unmöglich, sie zurückzuzahlen. So entschied ich mich, fünf Jahre lang auf der Straße zu musizieren, danach werden meine Kreditverpflichtungen nichtig.« Der im ehemaligen Leningrad geborene Perkussionist Nikolaj (41), der sehr selbstbewusst auftritt, stößt zu den Jungs. »Seit meiner Kindheit bewege ich mich per Anhalter durch Russland, schließe mich den anderen Stritery an und trete in den Clubs auf.«
Menschen gehen vorbei, lächeln, bleiben stehen, bestellen Lieder, singen mit. Nur wenige rufen Beleidigungen aus. Doch wenn Polizisten vorbeigehen, dann werden die Musiker plötzlich ganz klein.
Den Artikel lesen Sie in der M&R 3/2014, erhältlich ab dem 25. April 2014 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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