Vor 80 Jahren erschien Walter Benjamins berühmter »Kunstwerk«-Aufsatz. Vor allem seine Thesen zur Ästhetik des Faschismus und imperialistischen Krieges sind erschütternd aktuell
Susann Witt-Stahl
Der Faschismus hat eine der verstörendsten Horrorvisionen Realität werden lassen. Die »Selbstentfremdung« der Menschheit »hat jenen Grad erreicht, die sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt«, lautet die wohl bitterste Diagnose des marxistischen Philosophen Walter Benjamin in »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. Der erstmals 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichte Essay zählt bis heute zu den bedeutendsten kulturkritischen Abhandlungen des 20. Jahrhunderts.
Er enthält unverzichtbare Beobachtungen über die in der kapitalistischen Gesellschaft, bedingt durch ihre hierarchischen Eigentumsverhältnisse, permanent notwendige »unnatürliche Verwertung« der sich in atemberaubender Geschwindigkeit entwickelnden Produktivkräfte, wie Benjamin schrieb. Unter den Bedingungen der brutalsten Herrschaftsform des Kapitalismus vollziehe sich parallel dazu auf der ideologischen Ebene eine »Vergewaltigung« der Massen, die »zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen« sollen. Diese strukturell im Faschismus angelegte und sich nicht zuletzt im Führerkult offenbarende Ausübung repressiver Kontrolle und Manipulation laufe unweigerlich auf intensive Beschleunigung einer »Ästhetisierung der Politik« hinaus, die in der katastrophalsten zwischenmenschlichen Beziehung gipfelt: Krieg. Der imperialistische Krieg sei nicht zuletzt ein »Aufstand der Technik, die am ›Menschenmaterial‹ die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat«, so Benjamin weiter. »Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt sie den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin«.
Marxistische Künstler wie John Heartfield und George Grosz verarbeiteten den modernen Massenvernichtungskrieg als Menschheitstrauma – für die italienischen Futuristen war er ein grandioses Feuerwerk für die Sinne: In den Tod bringenden »geometrischen Fliegergeschwadern« entdeckten sie »neue Architekturen«, in den Gewehr- und Artilleriegefechten samt Feuerpausen »Sinfonien«. »Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet«, schwärmte Filippo Tommaso Marinetti unter dem Eindruck des Abessinienkrieges.
Schon 1930 hatte Benjamin in einer Kritik von Ernst Jüngers Sammelband »Krieg und Krieger« eine »neue Kriegstheorie« von »faschistischen Klassenkriegern« analysiert, »der ihre Herkunft aus der rabiatesten Dekadenz an der Stirne geschrieben steht« und die »nichts anderes ist als eine hemmungslose Übertragung der Thesen des L’art pour l’art auf den Krieg«. Deren finale Durchsetzung würde nichts weniger bedeuten als die Erhebung des Krieges zum Selbstzweck – das Ende aller Hoffnungen auf eine mit der Natur versöhnte humane Gesellschaft.
Ernst Jünger war Protagonist einer den Krieg und Heldentod fetischisierenden Literatur, die mit Verachtung für die »Grübler« gegen die »friedliche und ausgeklügelte Welt« mobil machte und »selbst in der unmenschlichen Maschinenschlacht eine Größe mythisch-unwahrhaftig erspürte«, wie Karl Jaspers konstatierte. »Wir wollen ein Fest aus unserem Untergange machen, ein Fest, zu dem das Geschütz der ganzen Welt einen brüllenden, niemals gehörten Salut schießen soll«, zelebrierte Jünger in seiner Schrift »Feuer und Blut« von 1929 die apokalyptischen Potenziale der modernen Waffentechnik. Faschistische und andere reaktionäre Gewaltästheten wie Jünger und Marinetti huldigten dem Krieg als einer Art kinematischer Wahrnehmungseroberungsmaschine, die Wahrheit durch Illusion ersetzt. 1990 notierte der französische Philosoph Daniel Bensaïd: »Morbide fasziniert von der Unvernunft, die das Jahrhundert bedroht, glaubte Marinetti, mit der Einverleibung der Ästhetik in den Krieg den Sinn retten zu können.« Die Kinos dienten, ergänzte der Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio, – und das galt für die gesamte moderne Welt − als »Trainingslager, in denen eine ungeahnte agonistische Einstimmigkeit hergestellt wurde; hier lernten die Massen, die Angst vor dem Unbekannten zu beherrschen«. Walter Benjamin habe erkannt, dass Politik in den Kinosälen der faschistischen Gesellschaft »zur bloßen Angelegenheit passiver Konsumtion« verkommt, meint Esther Leslie, Professorin für Politische Ästhetik an der Birkbeck-Universität in London. Der faschistische Film erfasse die Wirklichkeit bloß als »Oberfläche«. »Dies repräsentiert exakt die Entmachtung – die Entrechtung – der Subjekte«, sei aber »eine genaue Darstellung eines falschen Zustandes der Verhältnisse«.
Erdrückend ist die Erkenntnis, dass die Ästhetisierung der Politik sich längst vom Strukturmerkmal des autoritären Staates zum Strukturmerkmal der gesamten spätkapitalistischen Welt gemausert hat: Keine Wahlkampf-Veranstaltungen mehr ohne ausgeklügelte Dramaturgie, gigantische Lightshows und pathetische Musik. Auftritte von Staatsmännern erfolgen nach Drehbuch. Die Szenen sind nicht selten erfolgreichen Hollywood-Produktionen entlehnt – nach George W. Bushs Besuch auf dem Flugzeugträger USS Lincoln in voller Kampfpiloten-Montur 2003 attestierten Medienexperten der Kriegsberichterstattung aus dem Irak eine »kinematographische ›Top-Gun‹-Ästhetik«.
Das alles ist noch harmlos im Vergleich zu Entwicklungen, die nach nichts weniger trachten als der Alleinherrschaft über die politische und historische Wahrheit: Sensationsmedien wie das US-amerikanische Lifestyle-Magazin Vice lassen sich längst nicht mehr von dem die Regeln diktieren, was objektiv der Fall ist: Mit einer radikal subjektivistischen und interventionistischen Berichterstattung kreieren sie neue – von ihnen gewünschte – Wirklichkeiten (die sie ins rechte Licht der Propaganda für den westlichen Imperialismus rücken) und haben längst die letzten Grenzen zwischen Journalismus und Kulturindustrie nivelliert. Die täglichen Schreckensnachrichten werden als Spektakel und Super-Show vermarktet, und die Masse hat ihre Existenzberechtigung nur als faszinierter Zuschauer, nie als vernünftig denkendes und handelndes Kollektivsubjekt.
Die angebotenen politischen Meinungen sind nur unterschiedlich innerhalb eines alles überwölbenden »Identischen«, beschreibt Esther Leslie die totalitären Züge der vom Neoliberalismus gezeichneten bürgerlichen Gesellschaft. Krieg sei »zum Kunstereignis geworden, denn er befriedigt die neuen Bedürfnisse des menschlichen Sinnesapparates, welcher technologisch neu gestaltet wurde. Das ist die Vollendung von L’art pour l’art oder des Ästhetizismus.«
Nicht zufällig ist heute europaweit eine Neue Rechte auf dem Vormarsch, die Ernst Jüngers »Feuer-und-Blut-Elite« und eine Renaissance protofaschistischer italienischer Futuristen wie Julius Evola beschwört. Kriegsfilme und -videospiele bilden vor allem im Zentrum des westlichen Imperiums die Top of the Pops der Kassenknüller. Das alles sind regressive Phänomene, die unweigerlich aus der Fortexistenz der Basis des Faschismus und der Bedingungen der Möglichkeit eines Faschismus an der Macht resultieren sowie aus der damit verbundenen, notwendig »unnatürlichen Verwertung« der Technik, wie wir sie heute etwa bei dem Einsatz von Kampfdrohnen erleben.
Die Fortsetzung der Politik mit gewalttätigen Mitteln etabliert sich sukzessive zum Normalzustand. Entgegen dem »voreiligen Gerede von einem ›Ende der Geschichte‹« sei der Krieg heute ein »mit Vorliebe verwendetes Mittel der Politik, das zur Selbstverständlichkeit geronnen ist, die vor allem durch eine kommerzielle Vermittlung der Massenmedien und eine kulturindustriell ausgerichtete Filmindustrie generiert und verfestigt wird«, sagt Moshe Zuckermann, der in seiner Abhandlung über das »Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit« Totalisierungstendenzen vor allem in der »Vergesellschaftung der Gesamtkunstwerk-Logik« erkennt. Der »Krieg erscheint dem übersättigten Konsumenten als ›natürlich‹. Krieg (und Gewalt überhaupt) wird so besehen in einer Art ›ästhetisch‹ vermittelt, die alles, was Benjamin damals wusste (wissen konnte), schlechthin in den Schatten stellt.«
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 2/2016, erhältlich ab dem 26. Februar 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.