Vor 30 Jahren begann der Siegeszug des Techno.
Ein Essay über elektronische Tanzmusik und ihre Verdinglichung
Gerfried Tschinkel
Techno war eine Revolution. Allerdings keine, die gegen die herrschenden Verhältnisse gerichtet war. Sie war, wenn schon, eine musikalische. Und heute? Der Wiener Elektrolabel-Betreiber Georg Lauteren alias DJ Glow sagt dazu: »Wenn ich heute 18-Jährige treffe, die sich für Musik interessieren, dann hören und machen die Techno, Drum’n’Bass oder vielleicht mal Hip-Hop. Das klingt alles nicht viel anders als vor 15 Jahren. […] Durch Internet, Computer und Digitalisierung, also durch die breite Verfügbarkeit von Produktionsmitteln, Informations- und Vertriebskanälen, haben sich tatsächlich so etwas wie globale Dörfer gebildet – differenzierte Subsubszenen mit ihren eigenen kulturellen Codes, von denen ab und an mal etwas in den Mainstream sickert. Die Revolution findet heute im Privaten statt.« Die elektronische Musik scheint also dort angekommen zu sein, wo sie seit House und Techno hinsteuerte: in der spaßkulturellen Vereinzelung.
Es gibt eine interessante Parallele zwischen der klassischen bürgerlichen Instrumentalmusik und der elektronischen Tanzmusik des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Stand hinter der bürgerlichen Instrumentalmusik das Ethos, eine Sprache zu schaffen, die jeder versteht, so dass auch all jene einbezogen werden konnten, die von den feudalen Verhältnissen unterjocht wurden, so gilt für die spätkapitalistische Tanzmusik, dass auch sie ein Gemeinschaftsgefühl jenseits sozialer Grenzen – wie der Klassenzugehörigkeit – entstehen lässt. Setzte sich die frühbürgerliche Instrumentalmusik allerdings gegen die feudalabsolutistische Willkür ab, so ist Techno eine Bewegung, die kein »außen« und keinen Gegner mehr kennt. »Somit zogen sich die Anhänger dieser Bewegung nach ›innen‹ zurück – in alte Industriekomplexe, leerstehende Warenhäuser, alte Bunker, Keller, verlassene Kinos etc.«, beschreibt der Sozialwissenschaftler Torben Ehlers die vorherrschende Dynamik. Ende der 90er-Jahre verlagerte sich das Techno-Treiben zwar vermehrt in die Klubs, aber nach wie vor gilt: Politisch revolutionär war diese Musik nie.
Verdinglichte Kommunikation
Techno bringt wie keine andere moderne Musikrichtung die soziale Kälte des Kapitalismus zum Ausdruck und ist durch und durch verdinglichte Kommunikation. Da die elektronische Tanzmusik oft rein instrumental ist, tendiert sie verstärkt dahin, durch Vieldeutigkeit die Zeichenfunktion von Musik in Frage zu stellen und die Umrisse der Informationsquelle zu verwischen. Die ersten House-Produktionen, die um 1985 entstanden waren, setzten noch sogenannte Vocal Gimmicks ein. Auch Gesangstexte, die populäre Themen aus der Disco-Musik aufgriffen, kamen vor. Doch bald verlor der Gesang, als eine abgehackte und synkopierte Abfolge von Stimm-Bruchstücken, jeden Sinn. Die menschliche Stimme kam wie ein Instrument zum Einsatz, sie wurde als Material wiederholt, verfremdet und bearbeitet. Auch im Acid House wurden anfangs noch einige Stimmen eingesetzt, doch bald sollte sich ihr instrumentaler Charakter weitestgehend durchsetzen. Ebenso waren im Detroit-Techno Worte höchstens Beiwerk. Alles sollte mit wenigen Tönen, die sich ständig wiederholten, ausgedrückt werden.
Musik wird so zum selbstrefenziellen Gebilde: Sie steht nur noch für sich selbst, und es gibt nichts, was noch dahinter zu vermuten wäre. Anstatt ihren menschlichen Ursprung erfahrbar zu machen, wird alles in die Sache hineinverlegt. Musikalische Kommunikation – also sich durch Musik verständlich zu machen und verstanden zu werden – findet nicht mehr als wechselseitiger Prozess statt (vom Verhältnis des DJs zu den Tanzenden sei hier abgesehen), sondern in verdinglichter Form, gemäß der totalen Unterwerfung unter die Bedingungen der Warenproduktion. Die informationelle Koppelung reißt vor dem Sender ab, und die Kommunikation zwischen Produzent und Hörer schießt auseinander – hin zu einer Einweg-Kommunikation, durch die sich der Hörer schließlich in emotionaler Vereinzelung wiederfindet. Auch und obwohl er in der Gemeinschaft der Tanzenden der Vereinzelung gerade zu entkommen sucht.
In ungefesselter Freiheit
Verdinglichte Kommunikation durchzieht freilich die gesamte populäre Musik, auch die gesungene. In der Pop-Lyrik wird die Informationsquelle verwischt, indem sich der Sänger im »Ich« der Darbietung den Text zu eigen macht und somit das Ausgesagte seine Herkunft verbirgt. Eine gleichgewichtige Wahrnehmung von Kompositions- und Interpretationsebene findet somit nicht statt. Hinzu kommt, dass dem Liedtext heute nicht allzu viel Bedeutung beigemessen und dieser vom Hörer auch nicht unbedingt verstanden wird. Eine Studie unter Highschool-Schülern in den USA hat ergeben, dass die große Mehrheit der Hörer selbst den Sinn von Protestsongs nicht erfassen kann. Vielmehr liegt das Hauptaugenmerk auf Melodie und Rhythmus eines Songs, und sein »Sinn« ergibt sich aus der Eigeninterpretation. Dennoch: In der elektronischen Instrumentalmusik fehlt von vornherein jegliche Aussage, der Text ist in Gänze wegrationalisiert. Das macht sie so geeignet für ihre Vermarktung, aber gleichzeitig auch so reizvoll für den Hörer – weil sich die Musik von ihrem »unnötigen« Ballast zu befreien und die Stimmung einer breiten Masse einzufangen weiß. Sie kann so in ihrer »reinen Form« auftreten, »in ungefesselter Freiheit nur auf sich selbst beruhend«, wie Hegel es ausdrückte.
Ein eigener Denkraum
Das Auseinanderschießen in der Kommunikation zeigt sich auch im Denken und Handeln der Produzenten elektronischer Tanzmusik, wenn lediglich der zu erzielende Effekt, das Stimulieren unbestimmter Gefühle und Stimmungen, in den Blick genommen wird. Paul van Dyk sagt über seine Musikproduktionen: »Ich habe eine Idee […] von der Atmosphäre, die ich vermitteln will […], und da arbeitet man so lange, bis man selbst das Gefühl hat, das kommt rüber. Und in der Regel funktioniert das dann auch bei den Leuten im Klub.« Umgekehrt wird beim Hörer, wenn es denn so ist, eine erlebnishafte Konkretisierung hervorgerufen. Er vollzieht keine Rückkoppelung mehr zum Produzenten, sondern nur noch auf sich selbst, auf seine eigenen Erfahrungen, Wünsche und Träume. So urteilt die einstige Loveparade-Organisatorin Kati Schwind über die Ankunft von House: »Die Ro- cker haben immer rumgemosert, dass die Musik sinnentleert wäre. War sie für uns aber nicht. Ganz im Gegenteil: Sie ließ einem Raum. Gerade weil es keine konkrete Aussage gab. Man konnte sich seine eigenen Gedanken machen.«
Abtauchen ins Selbstvergessen
Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die guten Absichten mancher Musikproduzenten nur selten übereinstimmen mit der gesellschaftlichen Funktion, die ihre Musik einnimmt. Detroit-Techno-Künstler verstanden sich teils durchaus als Widerstandskämpfer gegen die Majorlabels, Amerikas segregationistische Politik und die Verzweiflung in den Ghettos. Dieser Kampf sollte mittels Einsatzes der Technologie vorangebracht und durch den Sound ausgedrückt werden. In Europa dagegen besaßen House und Techno keine Schnittstelle mit politischem Engagement – von einigen Ausnahmen abgesehen. »Die gleichzeitige Ankunft der Raves und des Ecstasy hatten verblüffende Auswirkungen auf die Jugend. Die Raves wurden zu Volksfesten ohne die geringsten subversiven Anwandlungen«, resümiert Technoproduzent und DJ Laurent Garnier. Zu mehr Botschaft als »Friede, Freude, Eierkuchen« hat es die Bewegung hierzulande nicht gebracht. Stattdessen wurde Techno zum Soundtrack der Konterrevolution in Deutschland. Sicherlich, in Ost und West fanden nach dem Mauerfall ausgelassene Techno-Partys statt. Allerdings mehr als Weltflucht, als Abtauchen in den Rausch, ins Selbstvergessen. Dazu eignet sich Techno nach wie vor wie keine andere Musik.
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 2/2016, erhältlich ab dem 26. Februar 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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