Nach den blutigen Anschlägen sind sich Politiker, Medien und Kulturschaffende weitgehend einig: Wir brauchen jetzt dringend mehr Kitsch, mehr Champagner – und natürlich mehr Krieg
Susann Witt-Stahl
Die Hauptstadt Frankreichs erfährt in diesen Tagen eine ungeheure mediale Verklärung. Seit die Mörder des sogenannten Islamischen Staats (IS) ihr Massaker in der Konzerthalle Bataclan vom 13. November als Reaktion auf »perverse Feiern« zu rechtfertigen versuchten, wetteifern Politiker und Medien der westlichen Welt bei der Fetischisierung ebenso verstaubter wie alberner Klischees. »Man hört ja gar nichts andres als ›Je t’aime, je t’aime, je t’aime‹« – mit diesen Verszeilen aus Peter Alexanders und Vivi Bachs Schlager »Paris war eine Reise wert« von 1961 lässt sich der Kitsch, der aus allen Kanälen dröhnt, auf den Punkt bringen. In der Sprache, die derart kulturindustriell verwurstet wurde, dass Deutsche sogar hinter der Vokabel für »Arbeitsloser« (le chômeur) etwas Frivoles vermuten, prickeln die Lügen über die 2,3-Millionen-Metropole als »Stadt der Musik« und »Stadt der Liebe« auf den Zungen der Propagandisten der »westlichen Freiheit« wie ein Gläschen Dom Pérignon. Ihr Paris-mon-amour-Gerede verengt den Blick auf das »Vie douce« in Saint-Germain-des-Prés (mit Immobilienpreisen um 15.000 Euro pro Quadratmeter), wo die Reichen wohnen. Für sie hat die Belle Époque freilich nie aufgehört. Sie leben tatsächlich in einer »Stadt des Lichts«, wie Präsident François Hollande Paris in seiner Trauerrede für die 130 Opfer der Bluttat nannte.
Bekanntlich sind im Licht aber nur »die einen«, und »die im Dunkeln sieht man nicht«: Die nicht Gezählten »sans domicile fixe« (sie kommen in den Machwerken der Unterhaltungsbranche nur als »lustige Clochards« à la Jean Gabin vor), die in den Wintern unter der Charles-de-Gaulle-Brücke erfrieren, erst recht die Not der Bewohner der Banlieues – in manchen Vorstadtvierteln leben 70 Prozent unter der Armutsgrenze -, »Abschaum«, wie Nicolas Sarkozy sie nannte, deren Alltag Segregation, Ghettobildung und Stigmatisierung bedeutet, sie kommen natürlich nicht vor in den fröhlichen Ansichtskarten-Motiven, die gegenwärtig von Paris in besonders bunten Farben gezeichnet werden.
Die hässliche Realität von Paris passt nicht in die Landschaft derer, die ein europäisches 9/11 beschwören. Sie halten es aus guten Gründen mit Mireille Mathieu, die entdeckt hatte, dass »hinter den Kulissen von Paris« das Leben »noch einmal so süß« und »das wahre Paradies« ist, wie es in ihrem Ohrwurm aus den ersten Jahren der nachgaullistischen Ära heißt – das, was die Ideologen des Kriegs gegen den Terror als metaphysisches »reines Böses« ersonnen haben, bedarf der Kontrastfolie des Hedonismus. Denn wahres Glück hat der Kapitalismus nicht anzubieten.
Wie gewöhnlich waren die Meinungsmacher hierzulande in den ersten Tagen nach 11/13 weniger mit den Opfern von Paris als mit der Angst um sich selbst beschäftigt. In Radiosendungen wurde ernsthaft die Frage diskutiert, ob in Lebensgefahr schwebe, wer in Berlin und Buxtehude noch das Rückgrat besitzt, sich auf der Straße zu zeigen. Und es wurden vorsorglich schon mal die Toten islamistischer Terroranschläge beklagt, die es nicht gibt – aber ja immerhin eines Tages geben könnte. »Mir macht das große Angst, weil wir nirgendwo, nirgendwo mehr sicher sind – nirgendwo«, konnte sich Nighttalker Domian im Interview mit dem Rolling Stone kaum mehr beruhigen. »Die wollen uns alle treffen, die wir freiheitlich leben, die wir westlich leben, die wir die Gleichberechtigung hochhalten, die wir schwul oder lesbisch oder bisexuell leben – die wir einfach Spaß am Leben haben.«
Wie gewohnt paarte sich die deutsche Larmoyanz sehr bald mit Revanchismus, der unter den Vorzeichen des Großmachtstrebens der Berliner Republik im europäisch-transatlantischen Macht-lock, mit EU und NATO, der in der politischen Kultur und Kulturindustrie mit Huntington’scher »Zivilisation vs. Barbarei«-Ideologie verbrämt wird. In einer Zeit, in der der alte Schlachtruf »Jeder Stoß ein Franzos!« − zumindest scheinbar − als überwundener Chauvinismus geächtet, »Jeder Schuss ein Russ!« hingegen durchaus wieder als Option gehandelt wird und unsere Tornado-Fliegerasse am blutroten Himmel des Nahen Ostens ihr Können beweisen sollen, ist jedes Säbelrasseln des Nachbarn Musik in den Ohren der politischen Klasse Deutschlands. An Sätze von Präsident Hollande wie »Französische Soldaten greifen dort ein, wohin man sie ruft, um die Schwächsten zu schützen und nicht, um irgendeine Herrschaft auszuüben« − die allein vor dem Hintergrund der gigantischen Kolonialkriegsverbrechen der Armée française im 20. Jahrhundert, etwa in Vietnam und Algerien, an Zynismus kaum mehr zu überbieten sind − können Spitzenpolitiker, die die Sau des Furor teutonicus aus »historischen Gründen« noch nicht so rauslassen wollen, gut andocken. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) macht es vor: »Wir sind ja hier nicht auf einem Seminar«, bügelte er den Einwand der Opposition ab, dass sich Deutschland, entgegen der Behauptung der Bundesregierung, bei der geplanten Militärintervention in Syrien nicht auf das in der UN-Charta festgeschriebene Selbstverteidigungsrecht berufen könne. »Frankreich hat erklärt, dass das Land sich angegriffen fühlt« − das allein sei entscheidend. So demonstrierte Steinmeier, wie die Wahrheit und internationales Recht im Handstreich mit einer Parole entsorgt werden können: »Nous sommes Paris!«, heißt der neue Schlachtruf des deutschen Imperialismus.
Auch Medien und Kulturschaffende entdecken die Möglichkeiten und möchten sich »angegriffen fühlen«. »Je suis Eagles of Death Metal« titelte Die Welt und forderte Solidarität mit der US-amerikanischen Rockband ein, die zum Zeitpunkt des Massenmords im Bataclan auf der Bühne stand: christliche Rechte, die den US-Präsidenten Barack Obama für einen Kommunisten halten. »Ich mag Kommunisten nicht. Kommunismus ist scheiße. Niemandem gehört irgendwas. Ronald Reagan hat uns das Gott sei Dank beigebracht«, sagt Frontmann Jesse Hughes. Das Mitglied der National Rifle Association hat auch viel Freude am Herumballern und verkündet stolz, ein »rechter Extremist« zu sein. Die Wochenzeitung Jungle World war offenbar so begeistert, dass sie zwecks Abendlandverteidigung − außer »Küsse, Freude, Champagner!«-Kulturindustriemüll aufzufahren und den »linksdeutschen Gefühlsjihadisten« den Kampf anzusagen − Hughes‘ Todesadlern gleich eine Titelseite widmete und darauf das Cover von deren neuem Album: ein Frauenoberkörper ohne Kopf, mit entblößten Brüsten. Daneben der Aufruf »Aux armes, libertins!« (Zu den Waffen, Freigeister!). Krieg und Geilheit kommen bekanntlich nie aus der Mode. Auch der Subkultur fällt nichts Besseres ein, als die Durchhalteparolen des Westliche-Welt-Patriotismus zu verbreiten: »Unsere Musik feiert das Leben, diese verbohrten religiösen Fanatiker feiern nur den Tod. Wir lassen uns das Feiern nicht verbieten − jetzt erst recht!«, verlautbart das Ox-Punkfanzine und hat auch schon den Schuldigen ausgemacht: »F*** religion!« Derart plumpen Ressentiments pflegt der Kabarettist Hagen Rether mit der Frage zu begegnen: »Angst vor dem Islam? Letztes Jahr sind 70.000 Deutsche an Alkohol krepiert − haben Sie Angst vor Riesling?« Auch das ist offenbar bei einigen deutschen Musikern nicht mehr auszuschließen, die besoffen nur noch vom französischen Nationalismus sind. »Vive la France«, war auf der Facebook-Seite der Band Kraftklub zu lesen. Die Scorpions ließen ihre Bühnenshow in der Halle von Paris-Bercy in »bleu, blanc, rouge« erstrahlen und sangen die Marseillaise.
Abgesehen von ein paar einsamen Rufern aus der Liedermacher-Szene: Kein Wort darüber, dass der Westen den islamistischen Terrorismus in den 1980er-Jahren in Afghanistan gegen die Sowjetunion in Stellung gebracht, für seine Ausbreitung im gesamten Nahen Osten, vor allem im Irak und Syrien, gesorgt hat und nun die Türkei, ein NATO-Staat, den illegalen Ölverkauf von zwei Millionen Euro täglich für die Finanzierung des IS sicherstellt. Kein Wort darüber, dass Ausgrenzung und Massenarmut der muslimischen Migranten in Europa eine Erscheinungsform des neoliberalen Klassenkampfs von oben sind und die Treibhäuser des Terrors die Banlieues und andere Elendsquartiere, wo seit jeher Blut und Tränen statt Champagner fließen. Wieder einmal protestieren Kulturschaffende »nicht gegen die Besitzverhältnisse, welche die Barbarei erzeugen, nur gegen die Barbarei« (Brecht). Auch Peter Ustinovs Mahnung nach 9/11, »Terrorismus ist der Krieg der Armen, und der Krieg der Terrorismus der Reichen«, ist längst verhallt. Die welthistorischen Krisen aber haben es bewiesen: Alle Gesellschaften, die sich ihren Widersprüchen nicht stellen und hysterisch nach mehr Spaß und Amüsement schreien, müssen eines Tages begreifen: Der Krieg, den sie säen und ernten, ist kein »La Boum« − er ist, wie Karl Kraus in seinen »Letzten Tagen der Menschheit« schrieb, »Bumsti«.
Den Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 1/2016, erhältlich ab dem 30. Dezember 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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