Kolumne von Robert Hunziker*
Der neoliberale Kapitalismus herrscht uneingeschränkt über Finanzwelt, Produktion und Handel. Er ist ein Leviathan, der die Seele der Menschheit zu zerreißen droht. Seine Dekadenz ist nicht mehr aufzuhalten. Um der Existenz der Menschheit willen muss sie durch eine Ökonomie ersetzt werden, die die Ökosysteme respektiert.
Vielleicht fangen die unterdrückten Massen in der Coronakrise an, grundsätzliche Fragen zu stellen: darüber, was im Leben wirklich wichtig ist, und darüber, was gerecht und ungerecht ist. Welche Antworten werden sie finden?
Vielleicht diese: Die Welt war selten so ungerecht wie heute, weil der gesellschaftliche Reichtum in die Taschen einer immer kleiner werdenden Gruppe von Einzelpersonen fließt. Der im Neoliberalismus gepriesene Fortschritt ist nur einer für diese Auserwählten, alle anderen betrügt und demütigt er.
Dabei ist es erst 230 Jahre her, dass Menschen auf die Straße gingen und Tausende solcher Auserwählter guillotinierten: Dem großen Terror in den Jahren 1793/94 fielen 40.000 Aristokraten, Höflinge und Geistliche zum Opfer. Die Herrschenden wurden danach allerdings noch dreister und ließen sich mit goldenen Kutschen entschädigen. Nach zu vielen Jahren des Neoliberalismus ist so heute eine dystopische Welt entstanden, in der Lohnsklaverei und die Auswirkungen einer wachsenden Verantwortungslosigkeit gegenüber der Natur den menschlichen Geist verfinstert haben. Dass in dieser Welt immer weniger Menschen immer mehr kontrollieren, ist auch Ergebnis eines rohen Individualismus. Letzterer wurde ursprünglich im US-Amerika des 19. Jahrhunderts während der sogenannten Bändigung des Westens geprägt; er wirkt bis heute fort – so, als ob diese nicht längst erledigt wäre.
Tatsächlich hat nie zuvor in der Geschichte der Menschheit ein universelles politisch-sozioökonomisches System auf die Evolution derart fatale Auswirkungen gehabt wie das nun 40 Jahre währende Experiment des High-End-Kapitalismus. Die von Menschen ausgelöste globale Erderwärmung wird derart drastisch vorangetrieben, dass das Artensterben zwei- bis zehnmal so hoch ist wie die natürliche Sterberate von Arten. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber ökologischen Belangen ist mit der Suche nach möglichst billiger Arbeitskraft verbunden – nur um immer größere Profite für immer weniger und gleichzeitig immer ignorantere Menschen zu erzielen. Globalisierter Handel, deregulierte Finanzmärkte, Ellbogen-Individualismus, ausgehöhlte staatliche Wohlfahrt und demontierter Umweltschutz kennzeichnen die Monstrosität des Neoliberalismus.
Wo bleibt das Gemeinwohl in dieser Welt? Die Idee vom Gemeinwohl wurde vor über 2.000 Jahren von Platon, Aristoteles und Cicero aufgebracht. Vereinfacht ausgedrückt, besteht es darin, dass die Sozialsysteme, die politischen Organe und die Umwelt, von der wir alle abhängig sind, so aus- und eingerichtet sind, dass alle Menschen davon profitieren. Das Gemeinwohl setzt sich nicht einfach von selbst ins Recht. Man muss für eine Gesellschaft, die sich danach richtet, kämpfen. Sie muss von einer höheren Kraft als dem rohen Individualismus, der nach unendlichem Wachstum und Profit strebt und das fälschlicherweise als Fortschritt bezeichnet, durchgesetzt, aufgebaut und gepflegt werden.
Postskript:
Wir haben genau zwei Möglichkeiten: Entweder wir ändern radikal unsere Lebensweise, oder wir sterben aus.
Adrian Parr, The Wrath of Capital, 2012
* Robert Hunziker ist Wirtschaftshistoriker und Umweltjournalist. Seine Artikel erscheinen in internationalen Zeitschriften wie Counterpunch, Dissident Voice, Comite Valmy und UK Progressive.
Foto: privat