Ein Kommentar von Gerd Schumann zum Ende der Festival-Saison
Die diesjährige Festival-Saison warf bereits lange Schatten, Septembersonne, als um die Ecke des sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park Tausende Menschen auf das Lollapalooza-Gelände strömten. Insgesamt wurden es dann an zwei Tagen 140.000. »Das Kult-Festival aus den USA«, so Springers Bildzeitung, gastierte nach 2015 zum zweiten Mal in Europa. Letztes großes Open-Air-Event in 2016 also – ein bewegtes Jahr. Gerade waren wieder einige hundert Tonnen Explosivmaterial über Aleppo abgeworfen worden und im Mittelmeer 450 Flüchtlinge elendig ersoffen. »So what?«, sagt wieder irgendwer und zieht die Schultern kurz hoch. »Kann man sowieso nicht ändern.« Fatalismus geht alltäglich um wie zu Opas Zeiten. Also vor Woodstock.
Über die geheimnisvolle Metamorphose der Gedankenwelten damals und heute wundert sich sogar die Bild, die Love & Peace und die 68er nur dank kräftigen Einsatzes von Polizeiknüppeln und Wasserwerfern überstanden hatte. Man erinnert sich im Springer-Hochhaus zu Westberlin noch eines gewissen Grummelns in der Magengegend. »Früher gab’s bei Rock-Festivals Drogen, freie Liebe, Rebellion.« Inzwischen sichtet Bild statt Aufruhr »Hipster-Alarm: schicke Frisuren, teure Klamotten, in den Händen keine Joints und Bierflaschen, sondern Handys und Club-Mate.« So klagt also die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands. Flaggschiff der Verblödung. Die Reaktion sorgt sich um eine an die schöne neue Karriere-Welt angepasste Generation. Kann es noch schlimmer kommen?
Es kann. Während die Privatsender das jüngste Forbes-Ranking der Bestverdiener im Popbusiness vermelden, sagt wieder einer »So what?«. Also: Taylor Swift (170 Millionen Dollar Gewinn 2015) ist einsame Spitze, die Boygroup One Direction (110 Millionen) wie auch Adele (80,5 Millionen), Madonna, Rihanna, Justin Bieber, Beyoncé (alle zwischen 54 und 80 Millionen) sind abgeschlagen. Aber immerhin. Wer kann, der hat. Wieder andere sammeln vor dem Lollapalooza-Park Leergut. Acht Cent pro Flasche. Plaste 15 oder 25. »So what?« Selbst schuld!
Drinnen jedenfalls groovt die Menge zu den Sounds von Afghanistan-Veteran Paul Kalkbrenner – und bestreitet den Programmpunkt »Mode«. Ein einziger Catwalk, das Festival. Einige Wiedergänger des Summer of Love in Hippieklamotten werden noch gesichtet, ansonsten überwiegt das gepflegte Äußere von der Prêt-à-porter-Stange, leger und seriös zugleich, allzeit bereit fürs Bewerbungsgespräch. Hippe Bartträger, unterhalb des Kopfes meist dezent durchtätowiert. Spiegelbilder einer hedonistisch-affektierten Karriere-Gesellschaft. Der Mensch als Produkt einer selbst im Sommer kalten Umwelt. Alles wird eins, auf und vor der Bühne. Plastic people for plastic people. Der Schein bestimmt das Bewusstsein. »So what?« Nur Bild ist verwirrt.
Der Beitrag erscheint in der Melodie und Rhythmus 6/2016, erhältlich ab dem 28. Oktober 2016 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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