Melodie & Rhythmus

»Manchmal kommen mir die Tränen …«

30.08.2016 14:39

Ende der 1990er-Jahre: Esther in der Band Coincidence mit ihren Kindern Joram und Edna, die das Projekt gegründet hat. Von links: Edna (Gesang), Wilfried Hesse (Cello), Joram (Bass), Esther (Gesang), Clemens Völker (Gitarre) Fotos: Laika Verlag / »Esther Bejarano: Erinnerungen«
Ende der 1990er-Jahre: Esther in der Band Coincidence mit ihren Kindern Joram und Edna, die das Projekt gegründet hat. Von links: Edna (Gesang), Wilfried Hesse (Cello), Joram (Bass), Esther (Gesang), Clemens Völker (Gitarre)
Fotos: Laika Verlag / »Esther Bejarano: Erinnerungen«

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Esther Bejarano über jüdische Kultur und die Wirkung von Musik

Interview: Susann Witt-Stahl

Die deutsch-jüdische Musikerin war Mitglied im Mädchenorchester von Auschwitz. Seit Anfang der 1980er-Jahre kämpft die aktive Antifaschistin, zunächst mit ihrer Formation Coincidence, seit 2009 mit der Rap-Band Microphone Mafia, gegen das Vergessen. M&R besuchte sie in Hamburg.

Esther im Alter von 14 Jahren Fotos: Laika Verlag / »Esther Bejarano: Erinnerungen«

Esther im Alter von 14 Jahren
Fotos: Laika Verlag / »Esther Bejarano: Erinnerungen«

Das bekannteste Werk des Schriftstellers Stefan Zweig erzählt von der untergegangenen diaspora-jüdischen »Welt von Gestern«. Sie haben diese Welt noch kennengelernt.
  
Wir haben früher ein wirklich schönes Leben gehabt in den jüdischen Gemeinden. Mein Vater war Kantor. Wir haben einen koscheren Haushalt geführt, obwohl meine Familie sehr liberal war. Mit der Religion habe ich nichts zu tun. Aber kulturell hat mir das Aufwachsen in einem jüdischen Elternhaus viel gebracht. Die Liebe zur Musik; ich bin nicht zufällig Sängerin geworden.
  
Der Philosoph Max Horkheimer bescheinigte dem Diaspora-Judentum eine »Weigerung, Gewalt als Argument der Wahrheit anzuerkennen«, die aus der jüdischen Geschichte von Verfolgung und Ausgrenzung rührt.
  
Diese Haltung ist mir vertraut. Ich bin gegen jede Gewalt. Kriege können niemals Frieden bringen. Ich glaube, dass ich die Einstellung, die ich zum Leben habe, aus meinem Elternhaus mitbekommen habe. Ich wusste natürlich seit meiner Kindheit, dass wir irgendwie anders waren als die anderen. Aber nicht in dem Sinne, dass ich stolz darauf war, etwa weil es so viele jüdische Musiker und andere Künstler gab. Ich bin Jüdin, weil ich als Jüdin geboren bin, und ich lebe es.
 
Sie haben Ihr ganzes Leben lang musiziert …
 
… selbst in Auschwitz. Wie ich unter diesen Umständen später weiter Musik machen konnte? Natürlich war das schrecklich. Ich habe das erzwungenermaßen und nicht gern gemacht − eben weil ich überleben wollte. Musik hat mich gerettet, deshalb kann ich doch nicht damit aufhören. Ganz im Gegenteil. Heute trete ich mit meiner Band auf, um den Menschen zu erzählen, was ich damals erfahren habe. Musik ist mein Leben.
 
Mit welchen Klängen verbinden Sie Ihre schönsten und eindringlichsten Erinnerungen?
 
Jiddische Lieder. Einige davon habe ich mir für mein Repertoire ausgesucht − »Sog nit kejnmol« von Hirsch Glick oder »Mir lebn ejbik« −, ich liebe sie sehr. Auch hebräische Lieder, die in Israel entstanden sind. »Kineret« von Marc Lavry ist ein wunderschönes Lied über den See Genezareth.
 
Kann Musik von einem Leid erzählen, vor dem Sprache sich als ohnmächtig erweist?
 
Ja, ich empfinde das so. Bei Musik, die mir besonders gut gefällt, kommen mir manchmal die Tränen. Am häufigsten ertappe ich mich dabei, wenn ich Klassik höre. Ich habe ja eine Beziehung dazu; ich bin ausgebildete Koloratursopranistin, habe immer Opern und Operetten gesungen.
 
Hilft Ihnen Musik zu bewältigen?
 
Es gibt einige Stücke, die ich mir ganz bewusst anhöre, wenn ich einmal wieder an einen Punkt komme, an dem ich einfach nicht mehr erinnern will, was ich alles erlebt habe. Dann sage ich mir: Warum muss ich nur immer wieder daran denken? Es ist so entsetzlich. Ich wusste zunächst nicht, wie meine Eltern umgekommen sind; ich habe es erst später erfahren. Ich fand ihre Namen in einem Buch, in dem die Transporte von Breslau nach Kowno aufgelistet waren. Die Nazis haben ja ihre Verbrechen bürokratisch festgehalten. Und wenn ich mir vor Augen führe, dass meine Eltern sich in einem Wald nackt ausziehen mussten, man sie mit anderen Opfern in einer Reihe aufgestellt, dann einfach abgeknallt hat und sie dann in einen Graben gefallen sind – das ist für mich das Schlimmste und viel grauenhafter als all das, was ich in Auschwitz erlebt habe. In Momenten, wo mich der Gedanke an den schrecklichen Tod meiner Eltern heimsucht, habe ich das Gefühl, ich brauche gute Musik.
 
Was hören Sie dann?
 
Mozart, vor allem Beethoven – am liebsten die »Pathétique«. Dann beruhige ich mich wieder.
 
Das Interview ist in der Melodie und Rhythmus 5/2016 (EVT 2.9.2016) erschienen. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
 

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