Melodie & Rhythmus

Was bleibt. Statements

25.08.2015 15:28

Statements

Im Originalton: Statements aus verschiedenen Genres zu Vergangenheit und Zukunft der »Ostmugge«

M&R hat für das Titelthema »DDR-Musiken: Was bleibt.« Statements von Musikerinnen und Musikern eingeholt und dokumentiert diese im Heft selbst. Allerdings konnten wir manche von ihnen – aus Platzgründen ebenso wie wegen Doppelungen und Umfang – nicht oder nur gekürzt abdrucken. Deswegen veröffentlichen wir sie – alphabetisch geordnet – nachfolgend online und verbinden damit die Hoffnung, dass sie diskussionsanregend wirken. Was heißt: Es wäre schön, Meinungen dazu, Ergänzungen und Kritik zu erhalten.

In der gedruckten Ausgabe lesen Sie die Statements von:

  • Veronika Fischer, Sängerin, Staatsexamen als Solistin für Chanson und Musical
  • Bernd Begemann, aus dem Westen, Sänger, Gitarrist, Entertainer
  • Dirk Zöllner, Singer-Songwriter (Chicorée, Die Zöllner, Die Drei HIGHligen mit André Herzberg und Dirk Michaelis)
  • Uschi Brüning, Jazz- und Soul-Sängerin
  • Joe Raschke, Sänger bei Karussell (»Ehrlich will ich bleiben«, »Als ich fortging«)
  • Lutz Dettmann, Schriftsteller (»Wer die Beatles nicht kennt«)
  • Chris Jarrett, US-amerikanischer Pianist und Komponist (Chris Jarrett Trio, Four Free)
  • Gisbert »Pitti« Piatkowski, Gitarrist (Klosterbrüder, NO 55, Mitch Ryder, Renft)
  • Stephan Schrör, DDR-Punk, heute Galerist (Fresh Eggs Gallery)
  • Dr. Klaus Koch, Gründer und Leiter des Musikverlags und Plattenlabels BuschFunk
  • Reyk Zöllner, Inhaber ZUG Records & Musikverlag, Manager
  • Tino Eisbrenner, Rockpoet, Theaterdarsteller, Komponist (u.a. Jessica 1983-1986, zahlreiche Solo-Alben)
  • Spreewilder, Musiker und Veranstalter

Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 5/2015, erhältlich ab dem 28. August 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

Statemens

»Amiga-Vinyl«
Bernd Begemann, Sänger, Gitarrist, Entertainer

Ostdeutsche Musik habe ich erst nach der DDR entdeckt. Direkt zur Grenzöffnung habe ich viel Amiga-Vinyl gekauft. Viel Schrott, einige Perlen (großartig: »Morgen« vom Ludwig-Septett z.B.) – genau wie im Westen. In den 1990ern waren Manfred Krugs Aufnahmen Hamburgs beliebteste Partymusik zusammen mit Sly Stone.

»Fischer und Krug«
Uschi Brüning, Jazz- und Soul-Sängerin

Geblieben sind für mich die zeitlosen Produktionen von Günther Fischer und Manfred Krug. Als ich im Jahr 1970 als frische Berufssängerin antrat, hatte ich das Glück, mit dem Günther-Fischer-Quintett und Manfred Krug auf DDR-Tournee zu gehen. Nicht nur der Sänger, auch der Texter Krug ist ein ganz Großer. Anfang der 70er Jahre tat sich einiges in der DDR-Musikszene. Bands, die bisher nur Tanzmusik gemacht hatte, suchten nach neuem musikalischem Ausdruck, verbanden Rock, Soul und Jazz. Klaus Lenz, Reinhard Lakomy und die Band SOK machten spannende neue Sachen. 1973 gründete sich dann das Zentralquartett, das sich konsequent dem Creative Jazz zuwandte. Und plötzlich schwammen da rosa Krokodile in der Elbe.

»Nichts mitbekommen«
Michael Burzan, Fried Chicken Band, Studium Germanistik, Kunst, Kommunikations-Design, Volkswirtschaft. Seit über 25 Jahren aktiv im In- und Ausland als Autor, Fachjournalist und Chefredakteur

Damals in den späten 1970ern und frühen 1980ern haben wir überhaupt nichts von musikalischen Entwicklungen im Osten mitbekommen. Erst spät hab ich gehört, dass »Über sieben Brücken« von Karat war, nicht von Peter Maffay – das bleibt für mich »das« Lied aus der DDR. »Am Fenster« von City hat mich als Geiger der Fried Chicken Band durch die geilen Geigenpassagen von Georgi Gogow dauerhaft beeindruckt. Die einzige, vor der wir Respekt hatten, die wir liebten und die u.E. einen nachhaltigen Einfluss hatte, war Nina Hagen. Sie hat die Rolle der Frau in der Musik neu definiert und viele andere Sängerinnen dazu motiviert, stärker extrovertiert aufzutreten, sexuelle Themen zu bringen und auch in Punk/New Wave ernst genommen zu werden. Wir haben damals einen Film Östro 430, der »ersten deutschen Frauen-Punkband«, gedreht. Da waren Einflüsse durchaus nachvollziehbar.

»Immer bessere Bewertungen«
Lutz Dettmann, Schriftsteller (»Wer die Beatles nicht kennt«), lebt in Rugensee, Nordwest-Mecklenburg

Mit wachsendem Abstand, unter Beobachtung der heutigen deutschen Musikszene und zunehmender Altersweisheit (hoffe ich), bewerte ich unsere DDR-Musik immer besser. Natürlich freut es mich, dass inzwischen eine neue deutsche Popmusik entstanden ist, die auch wachsende Akzeptanz in der Öffentlichkeit findet. Aber unter diesen Gruppen gibt so viel Mainstream und Mittelmäßigkeit, wodurch doch unsere alten Perlen noch mehr glänzen. Ich will nicht pauschalisieren. Aber die Qualität der Ostmusik war doch in der Masse um vieles besser, was sicher auch der guten musikalischen Ausbildung der Künstler geschuldet war.
Ab 1980, während der NVA-Zeit, habe ich DDR-Musik bewusst wahrgenommen. Davor war Ostmusik für mich Staatsmusik, von Renft und »Tritt ein in den Dom« einmal abgesehen. Ich habe sie von vornherein nicht hören wollen. War dumm von mir, wie ich dann bemerkte. Ich stand auf Prog, sprich Lift, Stern Meißen, Elektra, mit zunehmenden Alter auch auf Karussell, City. Als Electra und andere Bands ins fast Schlagerhafte abglitten, waren sie für mich erledigt. Interessant waren Pankow, Silly, und Keimzeit ab 89/90.
Fasziniert haben mich oft die Texte, die versteckten Anspielungen, Wortspiele, das Lyrikhafte, besonders der letzten Vorwendejahre. Von dauerhafter Bedeutung für mich ist Citys Album »Casablanca« – ein Spiegelbild der letzten DDR-Jahre mit ihrem Gefühl und den Nischeneinrichtung. Ich kriege immer wieder eine Gänsehaut bei »Susann« oder »Halb und Halb«. Dann die »Meeresfahrt« von Lift – ist noch immer der Hammer. Schwer zu sagen, was die neuen Bands davon übernommen haben. Vielleicht die Versuche, wirklichkeitsnahe Texte zu schreiben. Nicht nur Liebe und blablabla.

Ganz spezielle, besondere Alben
Tino Eisbrenner, Rockpoet, Theaterdarsteller, Komponist (u.a. Jessica1983-1986, zahlreiche Solo-Alben und Bühnen-Projekte)

Heute kann nicht überleben, wer keinen Markt findet. Verschwunden ist das Besondere von damals: In der alten Zeit hatte kein Künstler über Geld nachzudenken, wenn er produzierte oder live spielte. Live gab es Einstufungen–- man wusste also genau, wie viel man bekam. Gut für das Mittelmaß, schlecht für eine Band wie Jessica, die trotz des großen Andrangs nur 473 Mark ausgezahlt bekam, entsprechend der Amateureinstufung. Ins Studio ging man auf Einladung der Plattenfirma oder des Rundfunks und hatte dabei keine Kosten. Wegen der fehlenden Sendeformate brauchte sich auch niemand Gedanken machen, welche Musik er machen müsste, um gespielt zu werden. Man musizierte, was man musizieren wollte.
Dadurch entstanden auch ganz spezielle, besondere Alben. Protobeispiel ist die Arbeit von Manfred Krug und Günther Fischer. Als sich Krugs Album dann im Westen mit vergleichbarer Musik (Krug/Herbolzheimer) nicht verkaufte, hörte er auf, weil er den nächsten Flopp hätte selbst finanzieren müssen. Seine DDR-LPs besitzen zeitlose Bedeutung wie auch frühe Veronika Fischer/Bartzsch-Alben, »Mont Klamott« und »Liebeswalzer« von Silly, »Spieler« von Jessica, die Platten von Hansi Biebl- und Holger Biege und einige mehr.
Schon in der Schule fand ich heraus, dass man uns in der DDR nur einen halben Brecht präsentierte. Und während jene ihn vereinnahmten, versuchten die anderen im Westen Deutschlands ihn gleich ganz totzuschweigen. Beides geschah anhand seiner politischen Bekenntnisse gegen Verführung und Verdummung der Massen, gegen Ausbeutung durch die Macht des Kapital und gegen die Kriegstreiber, vor denen er um den halben Erdball hatte fliehen müssen. Aber Brecht war viel mehr als ein politischer Denker. Er war nie Mitglied irgendeiner Partei, war ein Freund der Genüsse, der Unterhaltung, des Lebens. Er war ein Dichter, der sich politisch und kritisch äußerte, weil die finsteren Zeiten, in die er geboren wurde, ihm dies abverlangten.
Um dem ganzen Brecht eine Stimme zu geben, fing ich an, Brecht-Abende aufzuführen. Im Jahr 2013 ist dann mein erstes Album BRECHT erschienen. Eine Platte, mit der ich vor unserem »Klassiker der Vernunft« den Hut ziehe. Seit ich siebzehn war, habe ich das immer wieder getan und werde es noch tun, wenn ich die siebzig längst überschritten habe. Wo auf der Welt ich schon überall als deutscher Sänger mit dem »Haifischsong« eingeschlagen habe, kann ich kaum aufzählen. New York, Moskau, Santiago, Paris. Überall kennt man dieses Lied. Das schönste Gefühl aber ist noch immer, wenn mein deutsches Publikum diesen Song und damit Brecht als einen der ihren feiert.
Georgi Gogow und mich führte eine kongeniale Sehnsucht zusammen. Er, dessen bulgarisch geprägte Kompositionen von seinen ostdeutschen Rockerkollegen selten gewürdigt oder gar gebraucht wurden und ich, dessen Kindheitsjahre in Bulgarien genau zum Gegenteil führten. Ich betextete eine komplette Kassette mit seinen Liedideen und machte so deutsche Songs aus Weltmusik. Wir gründeten das Projekt „Der wilde Garten“ und nahmen zwei Alben zusammen auf. Geschehen in den frühen Nachwendejahren, in denen die Szene Ost sich langsam erholte, ohne aber vorerst viel Innovatives zustande zu bringen. Wir öffneten musikalisch (zusammen mit Tobias Morgenstern, Felix Lauschus und Manne Hennig) die Tore zur Welt und spiegelten in unseren Songs auch das politische Befinden unserer Landsleute wider.
Was bleibt, sind vorerst viele ostgegerbte Musiker, die sehr professionell und universell einsetzbar sind und ein Schwung großartiger Lieder, die auf un-ostalgische Weise zu entdecken, noch vor uns liegt.

»Hoher Anspruch an das Live-Spielen…«
Veronika Fischer, Sängerin, Staatsexamen als Solistin für Chanson und Musical

Ich begann 1968 als Studentin an der Dresdner Musikhochschule nebenbei bei Fred Herfter zu singen. Dann kam die Stern Combo Meißen, bei denen mich bald Panta Rhei abwarb. Ganz klar, meine professionelle Arbeit auf der Bühne begann mit Panta Rhei. Hier agierten viele tolle Musiker. Die haben mir den Beruf richtig nah gebracht. Anfangs war es hart, mir wurden Noten hingelegt, ich musste vom Blatt singen. Ich dachte an meinen Vater, der mir früh sagte: Musik musst du wie ein Handwerk erlernen. Dieser hohe Anspruch an das Live-Spielen zeichnete die Musikszene aus. Ich habe dann in den ersten zehn Jahren meiner Karriere in der DDR rund 250 Konzerte pro Jahr gespielt. Auch in den damals noch sozialistischen Ländern war ich unterwegs. Zum Beispiel mein erstes Konzert in Ungarn mit eigener Band im Vorprogramm von Omega vor 15 000 Besuchern im Kiss-Stadion in Budapest. So etwas ist unvergesslich.

Klassik? Klar überlegen.
Chris Jarrett, US-amerikanischer Pianist und Komponist (Chris Jarrett Trio, Free Four), lebt in Oberotterbach an der Südlichen Weinstraße

Ich war nie ein Pop-Fan. Meine Musikhelden waren fast immer diejenigen, die etwas Besonderes aussagen wollten. Und die ihre Gesellschaft kritisch betrachtet haben. Auch diejenigen, die über die Musik ihr Weltbild zu vermitteln versuchten, haben mich oft angezogen. Mit dieser Geschmacksrichtung ist ja fast 90 Prozent der populären Musik eigentlich ausgeschlossen, fürchte ich. Meine Erfahrungen – als Amerikaner, der in Westdeutschland gelebt hat – mit der DDR, bezogen sich auf zwei Erfahrungskreise: Auf Besuche des Festivals des politischen Liedes in Berlin sowie das Hören meine Klassik-Favoriten bei mir zu Hause.
Sicherlich habe ich auch die Hörgewohnheiten meiner Freunde aus der DDR damals mitverfolgt. Wenn es um die Liedermacherszene der DDR oder die FDJ-geführte Liederbewegung geht, ist das Element der Nostalgie so stark nicht, weil speziell in der DDR eine Protestkultur zu Ende gegangen ist, sondern weil diese kritische oder auch politische Musik im Grunde weltweit kleingemacht wurde. Es hat sich die Vorstellung breitgemacht, dass Musik und Kunst zu nichts Konkretem fähig sind. Infolgedessen sollten sie sich auf das Formal-Ästhetische beschränken und aus dem Weltgeschehen heraushalten.
Doch bleibt Tatsache, dass jedes Beispiel und jede Tat eine Wirkung haben kann. Es ist der Negativismus an und für sich, der die eigentliche Ursache für den Niedergang politischer Musik darstellt. Neulich gefragt von einem Schüler, warum diese nichts aussagende Popmusik so übermäßig populär ist und einen so hohen Marktanteil hat, habe ich geantwortet: »Das ist eigentlich eine militärische Frage«. Der einseitige Machtbesitz eines »Superpowers« ist nicht der Boden, woraus kritische Früchte wachsen. Natürlich war die Liederbewegung (auch) ein Versuch, die Jugend im Lande und aktiv zu halten, aber trotzdem hat sie die Urfunktion der Musik – die gesellschaftliche Bildung – in den Vordergrund gestellt und analytisches Denken angeregt. Ich habe natürlich den Oktoberklub mehrmals gesehen – die biedere Erscheinung war mir nicht immer sympathisch und ihr Angepasstheit war offen zu sehen. Aber: Manches Lied war intensiv, reflektionsreich und bildend.
In Berlin habe ich auch Theodorakis gesehen. Mit »Canto General( und – obgleich er kein DDR-Musiker war – gibt es eine lange Geschichte seiner Tätigkeiten in der DDR. Unvergesslich! Es gab also in der DDR– trotz Verboten und Unterdrückung – eine angeregte und auf hohem Niveau stattfindende und teils offen ausgetragene Diskussion über die gesellschaftliche Funktion der Musik. Heute dagegen braucht man kaum etwas oder jemanden verbieten – die Musik ist selbst zum tönenden Dollar geworden.
In der »klassischen Musik« war die DDR dem Westen – gemessen an der Größe und Lage – klar überlegen. Chöre wie die Thomaner oder der Leipziger Rundfunkchor unter Horst Neumann oder Orchester wie die Dresdener Philharmonie (in Feinsinnigkeit und Rafinesse der Berliner Philharmonikern weit voraus) oder das Leipziger Rundfunkorchester unter dem Jahrhundertgenie Herbert Kegel, der bereit war, die allermodernsten Werke mit ungeheuerliche Präzision und Verstand aufzuführen, haben Schatten auf die Repräsentation des mächtigen Westens geworfen.
Überhaupt war das DDR-System schon locker in der Lage, Kulturelles auf hohem Niveau herzustellen. Wenn ich die Aufnahmen des großen Herbert Kegel (der sich kurz nach der Wende umbrachte) anhöre, weiß ich, dass er zumeist Zeit und Ruhe hatte, mit dem Orchester zu proben. Er wurde nicht hin und her gehetzt, ihm wurden nicht, wie einem »Star«, verwöhnend hohe Gagen bezahlt, die dazu führen, dass man die Realität »überwindet« und faul wird. Er wurde in Ruhe gelassen mit seinem Orchester, bis die Arbeit getan war. Besser kann man die Grundlage für Großes in der Klassik nicht bereiten. Es wurde und durfte von denjenigen, die das Interesse daran hatten, allein wegen der »Sache« hart gearbeitet und (zumeist) nicht wegen der Eitelkeit. Kegels Vermächtnis lebt weiter und wird zunehmend entdeckt. Wiederholbar scheint so etwas, unter jetzigen Voraussetzungen, nicht mehr.
P.S. In der Wendezeit habe ich selbst bescheidene Gelegenheiten gehabt, am Musikleben der DDR teilzunehmen – mit so hervorragenden Musikern wie Dietrich Petzold, Hermann Nähring oder Gina Pietsch.

»Sehr gut musikalisch gebildet«
Dr. Klaus Koch, Gründer und Leiter des Musikverlags und Plattenlabels BuschFunk

Ich denke, dass Gerhard Schöne so zwischen 1987 bis 1989 besondere Akzente gesetzt hat. Der Ost- der DDR-Rock – wie wir ihn heute wieder wahrnehmen – war eigentlich erledigt sieht man von Silly, Pankow und den »anderen Bands« einmal ab, die leider oder bewusst ohne Massenbasis agierten. Schöne war der erste Liedermacher in Deutschland, der damals mit großer Band (»L`art de passage«) auftrat, wo zu Tausenden die Menschen kamen und z.B. die Insel der Jugend in Treptow (fast) zum Sinken brachten.
Am 13. Dezember 1989 stellten wir an das Ministerium für Kultur der DDR den Antrag auf Gründung eines eigenständigen „Büro für zeitgenössische Kunst“, kurz BuschFunk genannt. Das war wahrlich kein Schritt, der einer Hell- oder Weitsicht, sondern eher aus einer Ansammlung wirrer Gefühle entsprang. Alles, was am Anfang und einiges was später geschah, passierte zumeist aus der Not heraus, es selbst tun zu müssen, getreu dem heute fast vergessenen Satz: »Um uns selber müssen wir uns selber kümmern.« Aus BuschFunk wurde der erste unabhängige Musikverlag im Osten Deutschlands, dem einige folgten, und daran angeschlossen der erste Musikvertrieb, dem niemand weiter folgte.
In den folgenden Jahren veröffentlichten bei uns nicht nur DDR-Rockbands wie Renft, Freygang, Rockhaus, Engerling, oder Pankow, sondern auch Liedermacher wie Bettina Wegner und Gerhard Schöne, Jazz-Größen wie Pascal von Wroblewsky und viele andere. Schaut man heute in unseren aktuellen Katalog, ist auf den ersten Blick zu sehen, dass die (im Vergleich zum Westen sehr gut musikalisch ausgebildete) DDR-Musiker-Generation nach wie vor kreativ ist und ihr Publikum findet. Also: Geblieben sind viele. Sie haben gearbeitet, ihre Kunst weiter entwickelt. Man kann sie hören.

»Die gab es nicht…«
Bernd Maywald (TV-Pionier, Songtexter). Der 79-Jährige erfand 1969 »Notenbank«, die erste TV-Rocksendung mit Songs auf deutsch

Was bleibt? Zum Beispiel ein Evergreen wie »Sagen meine Tanten« von der Band Scirroco, die es eigentlich gar nicht gab. Sie hatte nach einer Keilerei, an der nur ihre »aufputschende Musik« Schuld sein konnte, Auftrittsverbot erhalten. Als sie nunmehr trotzdem in der DFF-Sendung »Notenbank« auftreten sollte, musste sie sich einen anderen Namen zulegen – »Scirroco« eben. Nicht zu vergessen, die bekannte und von vielen geliebte Rundfunk-Musikproduzentin Luise Mirsch. Sie sorgte u.a. dafür, dass die polnische Band Skaldowie deutsche Fassungen ihrer Lieder produzieren konnte. Und damit begann meine Songtexter-Karriere.

Kein Mangel an Material
Jörg Mehrwald, Autor, Filmemacher, Kulturmanager auf Hiddensee

Die massive Selbstverständlichkeit der deutschen Texte bleibt. Gerade Anfang der 70ern hatte man auf der anderen Seite nur Lindenberg und einige mehr oder weniger Agit-Prop Gruppen dagegen zu setzen. Die Ostmugge war musikhistorisch die konsequentere Hinwendung zur deutschen Sprache, bedingt durch das System, auch mit einem überraschend hohen metaphorischem Niveau. Interessant und einzigartig dürfte auch bleiben, dass fast alles an Eigenkomposition in den 70ern aus einer Phase der oft hochklassigen Cover entstand. Colosseum, Emerson, Lake & Palmer, Jethro Tull wurden zeitgleich gecovert – zeitgleich bot man dem Publikum „Tritt ein in den Dom“ oder „Wer die Rose ehrt“ an. Das Publikum war up to date zur Rockmusik der Welt und nahm eine eigene Entwicklung wahr. Songs von Renft, später Karussell, Electra und Reform oder – ich glaube die wurden nicht mitgeschnitten – die Fusion-Tour von Stern Meißen und Klosterbrüder werden als Erlebnisse im Gedächtnis bleiben.
Ob Songs über die Zeit eine Bedeutung haben, hängt von den Fans ab. Wenn man heute Tausende »Alt wie ein Baum« singen hört, hat es für diese Menschen eine Bedeutung, für mich bleiben die Puhdys nach wie vor zweitrangig. Aus meiner Erinnerung würde ich die Arbeiten wie die Suiten von Stern Combo Meißen, die zur gleichen Zeit wie die Scheiben eines Rick Wakeman komponiert wurden und später erschienen, oder Songs von Renft, später Karussell, Electra und Reform oder – ich glaube die wurden nicht mitgeschnitten – die Fusion-Tour von Stern Meißen und Klosterbrüder als Erlebnisse im Gedächtnis bleiben.
Allerdings ist die Blueswelle (Engerling, Diestelmann) auf ihre Weise für viele Erinnerung. Als die Punks dann Zappa auf Deutsch, aber 20 Jahre später, versuchten, war das auch ein eigenes Kapitel, das oft ganz witzig war – wozu ich aber nicht mehr viel sagen kann. Bleibende Scheiben kann ich nicht benennen. Eher Titel. Man muss Fan sein. Ich bin es nicht, weil ich überall zuhören möchte. Für die neue Zeit wäre unglaublich viel Songmaterial verwendbar. Ich bastle gerade an dieser Idee – gerade für rappende Newcomer sehe ich da Möglichkeiten.
Es ist nicht der Mangel an Material, sondern an Entdeckerwillen der neuen Generation. Das kann man nicht erzwingen. Irgendjemand muss die Vibes geil finden – mehr nicht. Dann klappt es. Für das Wichtigste halte ich es, aus der Ostrock-Ecke rauszukommen. Meines Erachtens eine vollkommen verhängnisvolle Identifikationsschmollecke, die sämtliche Zukunft blockiert.
Noch was: Jazz war natürlich Weltklasse. »Jazz in der Kammer«, der modern- and free-Bereich war top. Petrowski, Sommer – alles auch international gefragt. Eine Scheibe würde ich nennen: »FEZ«: Connie Bauers Kompositionen waren damals, auch Hubert Katzenbaiers Scheibe, sehr ansprechend. Die zweite Generation hatte es schon besser … Als Axel Donner sein Debüt bei Günther Fischer hatte, saß ich abends im Publikum. Das ging ab. Und das vor Leuten, die zu der Zeit von McCoy Tyner begeistert waren. Die Jazz-Szene war der Think-Tank der undefinierbaren DDR-Opposition der Intellektuellen. Bis auf die Knochen kultiviert und garantiert nicht zu überzeugen. Ich habe mich trotz der oftmals blöden Hybris gegenüber allem anderen dort ganz wohl gefühlt. Es gab einem das scheinbare Gefühl, dass wir die Welt sehr wohl auf Augenhöhe erlebten. Musiker wie Mangelsdorff und Schoof traf man ja in Peitz persönlich. Natürlich war auch das eine Selbsttäuschung … Aber irgendwo suchte jeder seinen Halt. Krug, Lenz – klare Sache: Besonderheiten.

»Spuren hinterlassen«
Wolfgang Michels, Singer/Songwriter (Percewood’s Onagram, Full Moon California Sunset), Hamburg

Das Besondere war, – und das ist der große Unterschied –, dass die DDR Rock Bands (zwangsweise) alle Deutsch sangen und deutsche Texte schrieben – während im Westen früher (fast) alle Rock Bands auf Englisch sangen. Deutsch zu singen war damals im Westen völlig »uncool«. Im Osten wurde so schon sehr früh mit der deutschen Sprache und Lyrik im Zusammenhang mit Rockmusik experimentiert. Die DDR-Bands hatten früher auch einen total anderen Sound als die West-Bands, was vermutlich mit den limitierten Studio-Möglichkeiten, der staatlichen Produktion und Kontrolle der Aufnahmen und dem technischen Ost-Equipment zusammenhing… .
Die Veröffentlichung von Citys »Am Fenster« und ihrer ersten LP im Westen kam nur zustande, weil ich bei (der Plattenfirma) Teldec monatelang dafür hart gekämpft und insistiert habe. Alle anderen westdeutschen Plattenfirmen hatten City und »Am Fenster« damals total abgelehnt. Kaum war die Single »Am Fenster« draußen, wurde sie zu Teldecs großer Überraschung – trotz der Länge von 6:30 min. –- bei einigen wichtigen Radiosender gespielt und wurde schließlich auch im Westen ein Hit – sogar in Griechenland, wohin die Teldec den Titel später lizensierte. Das erste Album »City« kam kurz darauf endlich heraus und erhielt schließlich Doppel-Platin.
Die deutschen Texte waren teilweise – auch sehr früh schon –- großartig! Sie sind im Rock-, Folk- und Blues-Bereich das Besondere – und das hat bis heute Spuren hinterlassen: Die intensive Auseinandersetzung und das Experimentieren mit der deutschen Sprache, das ist das, was als Einfluss in der Musik jüngerer Generationen noch da ist und bleibt. Man merkt das sofort, wenn man sich die deutschen Bands und Künstler von heute aus dem Osten anhört: Die legen großen Wert auf Texte, schreiben anders als die heutigen West-Autoren, obwohl: Man kann das natürlich nicht verallgemeinern…
Zum Sound der DDR Bands: Ab Anfang der Achtziger Jahre wurde der Sound der wenigen DDR Bands, die im Westen damals auftreten durften, wesentlich besser und fetter. Das lag u.a. daran, dass diese privilegierten Bands wie City, Karat und Puhdys »tonnenweise« bestes West-Sound-Equipment, wie Instrumente, Drums, Gitarren, Keyboards, Mikrophone, Verstärker, Effektgeräte, Aufnahmegeräte, PA-Systems etc. in der BRD einkauften und nach ihren West-Gigs in die DDR über die Grenze mit Genehmigung der DDR-Behörden »schmuggeln« durften. Die DDR-Bands sollten ja auch möglichst viele West-Devisen in den Osten bringen, und dafür sollten sie dann auch einen konkurrenzfähigen, guten, fetten Sound haben.

Vom Blues zum Rock
Jörg Quandt (Veranstalter aus Bützow)

Anfang bis Mitte der 1970er Jahre waren meine Freunde und ich Blues-Fans. Diese Musik widerspiegelte unsere Gemütsverfassung am besten. Wir hörten Bands wie Engerling, Freygang, Monokel, Hof Blues Band, Zenit, Jonathan Bluesband, Jürgen Kerth, Stefan Diestelmann und Hansi Biebl. Ab Mitte der 70er wurde es bei uns dann etwas rockiger mit Renft, Karussell, Magdeburg, Electra, Silly, City, Lift, Karat, Stern Combo Meißen… Insbesonders die Musik von Renft und später Karussell hatten es mir angetan. Titel wie Gänselieschen, Apfelbaum, Wer die Rose ehrt sind tief in meinen Erinnerungen verwurzelt.
Nach der Wende hatte ich die Ehre Bands wie Renft, Cäsar, Nina Hagen, Freygang, Feeling B, KEIMZEIT und Gundermann zu veranstalten. Ich war erfreut wie authentisch diese Musiker waren. Natürlich lebten wir auch mit westlicher Rockmusik. Da waren The Rolling Stones, Led Zeppelin, Deep Purple, Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Doors u.v.a. unsere Favoriten. Die Musik der heutigen Generation ist meiner Meinung nach wenig vom DDR Rock beeinflusst, außer vielleicht, dass heute wieder viel auf deutsch gesungen wird.

»Eine ganz eigene Lyrik«
Joe Raschke, Sänger bei Karussell (»Ehrlich will ich bleiben«, »Als ich fortging«)

Es war nicht so einfach, an gute Instrumente zu kommen, damit die Musik klang wie bei internationalen Vorbildern. Nicht jeder, der ein bisschen spielen konnte, durfte Musiker sein. Das kam der Qualität der Musik sehr zu Gute. Charakteristisch waren eine Zeitlang sehr komplexe, ausgereifte Arrangements mit fast schon werkartigen Zügen… Also Songs von acht Minuten Länge und vielen Parts. Die Regeln für die Texte waren: nicht englisch, keine volksaufhetzenden Inhalte, keine kapitalistischen Verherrlichungen und keine feindlichen Anspielungen gegen das System. Dadurch formte sich eine ganz eigene Art Lyrik … Man schrieb die Texte codiert, mit gespaltener Zunge, Doppel bis tripple-deutig und dazu sehr lyrisch-poetisch, meist mit hohem philosophischem Hintergrund….
Ein Beispiel: die Jugend der DDR wollte frei sein, Musik aus den USA und Great Britain hören, Blue-Jeans und Marlboro. Da diese Dinge Symbole des kapitalistischen Klassenfeindes waren, kam man da nur schwer heran. Das wollten junge Bands auch in den Texten gerne anprangern, aber man konnte zum Beispiel nicht so etwas singen wie: Ich will nicht mehr euren kommunistischen Lehrpfaden folgen….. Sondern man schrieb dann so was wie: in dem roten Schulhaus bin ich heut zum letzten Mal…! Und wenn die Jury dann fragte, was man in dem Lied mit »rotem-Schulhaus« meinte, so konnte man als Texter sagen: ich meinte damit ein Backsteinhaus (also mit roten Ziegeln). Jedoch wusste jeder ganz genau, was der Texter damit meinte. Das war echt eine ganz eigene Form von Musik! Man musste immer nachdenken und interpretieren. Man brauchte als Fan den Schlüssel dazu. Das war Kult. Nur so war man groovy.

»Parallelen zu Gainsbourg«
Wolfgang Schmiedt, Jazzgitarrist (u.a. Choral-Concert, Princess Troublemaker) und Musikproduzent (Label KlangRäume)

Interessant über die Tagesaktualität hinaus bleibt der ganze Bereich um Feeling B, die Cottbusser Ecke, allerdings auch Silly und der Free Jazz. Und natürlich die Klassiker wie Manfred Krug oder die frühe Veronika Fischer, unbedingt auch Klaus Renft. Man kann da schöne Parallelen ziehen zu Serge Gainsbourg, den Rolling Stones, Sex Pistols oder Glamrock-Bands. Irgendwie scheint in der Funktionalität das alles auch gar nicht so unterschiedlich gewesen zu sein, sicher in der qualitativen und quantitativen Ausprägung, aber das Zustandekommen und der Ausdruck bestimmter Emotionen scheint doch recht systemübergreifend und international zu sein. Und das Abarbeiten an Systemen eben auch.
Sicher kann man am Beispiel Biermann auch sehen, welchen Stellenwert Standorte haben. Für mich ganz klar: Songs von Krug, frühe Silly, Renft, Veronika Fischer, Biermann. Bei Dirk Zöllner z.B. höre ich zunehmend Manne Krug raus. Ob von den Studenten, mit denen ich zu tun habe, sich irgendwer dafür interessiert, öffnet oder sucht…? Ich glaube, da müssen noch ein paar Jahre vergehen, dann kommt vielleicht etwas. Im Moment wohl eher nicht.

Die Gewissensfrage
Stephan Schrör, DDR-Punk, heute Galerist, Fresh Eggs Gallery

Karat oder Puhdys? Das war die Gewissensfrage auf unserem Schulhof. Zehn Jahre später waren diese Bands bedeutungslos geworden. Wir hörten Feeling B, Expander des Fortschritts, Tausend Tonnen Obst. Und dachten: Das machen wir auch. Aber nicht so lustig, sondern artifizieller, kompromissloser. So entstand „First ARSCH“. Das stand für Autonome Randalierer Schwerin. Wir wollten uns von Blues und Jazz unterscheiden. Es ging um Provokation, Happening, Dada. Wir experimentierten mit alten sowjetischen Panzerkopfhörern, sampelten mit dem Casio SK-5. Eigentlich war alles irgendwie verboten, aber die Zeiten änderten sich gerade.

»Nichts ist vergleichbar…«
Spreewilder, Musiker und Veranstalter

Die Entstehung der Musik im Osten war geprägt von den Verhältnissen zwischen Rostock und Erfurt. Nichts ist vergleichbar mit den Texten, den Melodien dieser Zeit. Es bildeten sich eigene, enorm von Gemeinsamkeiten geprägte Personengruppen heraus. Bis heute erkennen sich die Blueser, Tramper und »Kunden« an bestimmten Kleinigkeiten oder im kurzen Kontakt miteinander. Oft reicht eine kurze Bemerkung im überlieferten »Kundenjargon« oder ein spezieller Szeneausdruck, um sich zu verstehen. So gesehen ist die Musik, sind die Musiker dieser Zeit im Ergebnis dafür verantwortlich, dass sich zumindest ein Teil der ehemaligen DDR – Bürger mal wieder gut fühlen darf und temporär so einfache Dinge wie Zusammenhalt, Brüderlichkeit und die Freude an gemeinschaftlichem Erleben ohne kommerziellen Hintergrund ausgelebt werden kann. Für mich ganz persönlich beschreibt »Legoland«, dieser Song von Boddi Bodag/Engerling alles das, was übrig ist vom Osten Deutschlands. Im Text wird die Verlorenheit und das Verlorene, das Ende von Sehnsucht oder der Versuch von Neuanfang besungen.
Von Engerling sind alle Platten wichtig. Von Elektra »Tritt ein in den Dom«, Feeling B alles von »Hea Hoa Hoa Hoa Hea Hoa Hea«. Freygangs »Die Kinder spielen weiter«. Alles von Hansi Biebl, von Jürgen Kerth, von Monokel, Manfred Krug, Neumis Rock Circus, Silly, Peter Cäsar Gläser und Panta Rhei. Meine Favoritenliste setzt sich fort über Pankows «Hans im Glück« und »Keine Stars«, Pasch, Renft, Klaus Lenz Big Band, Stern Combo Meißens »Der Kampf um den Südpol« sowie Veronika Fischer & Band mit »Auf der Wiese haben wir gelegen«.
Was bleibt? Es ist nichts weg. Alles bleibt. Im Herzen, im Bauch, im Kopf, im Bewusstsein, im Handeln, im Leben, beim Nicht-Vergessen, beim Verzeihen, beim Nachdenken, beim Innehalten, beim »Lass dir kein X für ein U vormachen«, für die Liebe. Ich hoffe, junge Musiker sind heute genauso wach und von sich eingenommen und voller Freude am Musik machen, um das zu tun, was sie tun müssen. Da kommt es nicht so drauf an, ob sie jemals etwas mit der damaligen Musik im Osten Deutschlands zu tun hatten…

»Das Beste erhalten«
Siegfried Trzoß, Rundfunk-Moderator, Autor des DDR-Schlager-Lexikon

Das Besondere an der DDR-Tanzmusik ist ihre Eigenständigkeit, hervorgerufen durch die Nachkriegssituation, die zur Entstehung von zwei deutschen Staaten führte. Die Entwicklung der Tänze Lipsi, Pertutti und Orion innerhalb der Zeit von 1958 bis 1963 stehen als Beispiel, wie auch die DDR-Schlagerwettbewerbe von 1966 bis 1971. Das Besingen des Lebens in der DDR, die Völkerfreundschaft und der Alltag in den sozialistischen Bruderländern standen im Vordergrund. Dabei waren die Jahre bis zum Mauerbau besonders spannend, weil es hier eine starke Zusammenarbeit zwischen Ost-und Westautoren/ Komponisten und Plattenfirmen wie Musikverlagen gab.
Große Bedeutung hat für mich mit dem Heranwachsen einer neuen Interpreten-Generation die Zeit zwischen 1963 bis etwa 1966, die vom »Kretschmer-Sound« musikalisch dominiert wurde- Ruth Brandin, Karin Prohaska, Ina Martell, Frank Schöbel, Andreas Holm, Ingo Graf sollen hier stellvertretend für die musikalische Frische stehen. Mit der Fernsehsendung „Bong“ und der darin vertretenen Pop-/Rockmusik bekam die Musikszene wieder neuen Aufschwung. Auch der Schlager. Geschickt wurden m. E. Elemente der Beat-, Rock-und Pop-Musik in so manchem Schlager vermischt.Von besonderer Bedeutung für mich war die Musik, die vom Team 4, der späteren Thomas Natschinski- Formation, eingespielt und vorgetragen wurde. Ich zähle Natschinski und sein Team zum Wegbereiter der gesamtdeutschen Beatmusik und Titel wie »Mocca-Milch Eisbar«, »Die Straße«, »Als du fortgingst« zu Klassikern jener Zeit. Die Bilder der textlichen Aussagen waren nachvollzieh-und erlebbar, heute noch hörenswert.
Es bleibt ein Musikschaffen hunderter Autoren, Komponisten, Liedermacher, Musiker, das es wert ist, gepflegt zu werden. Das Beste gilt es unbedingt zu erhalten. Auch wenn der Schlager des Ostens etwa ab Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er nicht mehr sein Massenpublikum fand, darf nicht vergessen werden, dass gerade während dieser Zeit die DDR-Interpreten bei internationalen Schlagerwettbewerben haufenweise Festivalpreise einheimsten. Meine Sendung »Kofferradio« pflegt das Schlagerschaffen des Ostens. Sie hat sich zu einer »Kultsendung« entwickelt, in der sich Zeitzeugen wie auch junge Zuschauer einbringen. Was mich immer wieder überrascht sind Meinungen von Hörern aus den alten Bundesländern, die auf unsere tollen Interpreten verweisen und meinen, es sei schade, dass ihnen dieses Liedgut 40 Jahre vorenthalten wurde… Möglicherweise nimmt so manches Einfluss auf die jüngere Musiker-Generationen. Der »Balladen-Trend« beispielsweise unterscheidet sich angenehm vom Dieter Bohlen-Sound.

»Kulturhistorischer Wert«
Dirk Zöllner, Singer/Songwriter (Chicorée, Die Zöllner, DreiHIGHlige [mit André Herzberg und Dirk Michaelis])

Die speziellen Bedingungen in der DDR haben eine unverwechselbare Musik von kulturhistorischem Wert hervorgebracht. Die Unabhängigkeit von einer Musikindustrie hat Experimente im Avantgardebereich zugelassen, im Punk, im Jazz, im Kunstlied. Leider waren die Aufnahmemöglichkeiten begrenzt, so dass nicht viel erhalten geblieben ist. Diese Kunstlieder sind wahrscheinlich das Augenfälligste. Favoriten: Titel von Lift, Franz Bartzsch, Sterncombo Meißen, Stefan Trepte, Silly, Holger Biege, Karat. Der Ursprung wortgewaltiger Texte liegt wahrscheinlich im Versuch, die Zensur zu umschiffen. Herausragende Autoren: Kurt Demmler und Werner Karma.
Ich habe die Bedeutung dieser Kunst erst spät begriffen, glaube aber nun sogar, dass sie einen bleibenden musikgeschichtlichen Wert hat. Der übliche Ostrockmix für Nostalgiker ist nicht so mein Ding, aber ich habe einen Plattenspieler und lege mir gelegentlich die Alben von Silly (Schlohweißer Tag, Mont Klamott) Holger Biege (Reichtum der Welt, Annabelle, Deine Liebe und mein Lied), Lift (ganz viel z.B. Scherbenglas, Am Abend mancher Tage, Nach Süden), Engerling (Gleichschritt), Renft und Hansi Biebl (z.B. Es gibt Momente). Zudem Franz Bartzsch (Wind trägt alle Worte fort), Karat (König der Welt), Karussel (Wer die Rose ehrt).

»Pankow, Silly, Rockhaus«
Reyk Zöllner, ehemals Die Zöllner, Inhaber ZUG Records & Musikverlag, Manager

Meine ersten Begegnungen mit der »Ostmusik« war so um 1978, da war ich elf Jahre alt und bin immer mittwochs in den Plänterwald gefahren, um mir die ganzen Bluesbands reinzuziehen: Hansi Biebl Band, Engerling, Jürgen Kerth und auch Freygang. Auf Engerling stehe ich heute noch, Bodi Bodag spielt so eine geile Orgel. Die erste Engerlingscheibe mit »Blues vom Roten Hahn«, »Tommi Simson«, »Mama Wilsen» habe ich immer noch im Kopf. Zudem ging ich fast jede Woche zur Gruppe »Handarbeit«, der damaligen Combo von Peter Schmidt, dem Wahnsinnsgitarristen und heutigem East Blues Experience-Chef. Im Plänterwald erlebte ich auch die ungarische Topband OMEGA sowie CITY direkt unterm Riesenrad, beeindruckend.
Anfang der 80er dann Pankow, Rockhaus und Silly. Das waren meine musikalischen Schlüsselerlebnisse. Ein wenig auch Stern Meissen (ohne Combo), die Anfänge mit Ralf Schmidt (IC) als Sänger und noch mit Uwe Hassbecker an der Gitarre und Bimbo am Bass. Als wir (mein Bruder Dirk und ich) dann ab Mitte der 80er selber mit der Musik anfingen, waren diese Bands auf jeden Fall Vorbilder, und ich besaß alle LPs. Meine »Meilensteine« sind auf jeden Fall die »Kille Kille« von Pankow, »Mont Klamott« und »Februar« von Silly und »ILD« von Rockhaus. Die höre ich immer noch. Am schönsten ist es jedoch, wenn heutzutage die ganz jungen Musiker sagen: »Ey du bist ´n Zöllner, damit bin ich aufgewachsen, ihr wart mein musikalisches Vorbild.« Dann wundere ich mich, dass ich schon fast 50 bin.

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