Melodie & Rhythmus

Folk in seiner reinsten Form

26.06.2012 11:00

Ian Fisher trägt den Sound von Missouri nach Berlin
Text: Christoph Schrag, Foto: Andreas Jakwerth/Anna Kohlweis

Ian FisherMit runder Brille, unscheinbarer Gestalt und sanftem, aber bestimmten Auftreten wirkt Ian Fisher so, wie man sich einen jungen Bert Brecht vor der Karriere vorstellen darf. Angetrieben von der Gewissheit, genau die Kunst zu machen, die er machen muss. Er wirkt viel reifer, als sein Alter vermuten ließe. Mit 24 stecken andere im ewigen Wochenende. Ian Fisher arbeitet ununterbrochen. Ist er nicht auf Tour, versucht er eine zu organisieren. Er spielt in unzähligen Bands. Und: er schreibt Songs ohne Unterlass, seit er ein Kind ist. Knappe tausend sind es inzwischen. Er hat‘s nachgezählt. Fragendes Stirnrunzeln quittiert er mit einem Achselzucken. 90 Prozent Mist. Aber es war eben nichts los, wo er herkommt. Und er hatte viel zu sagen, was niemand hören wollte.

Viertausend Einwohner zählt Ste. Genevieve in Missouri. Ians Heimat. Da gab es Farmen zu bestellen und Fabriken am Laufen zu halten. Die wenigsten Mitbürger hatten daneben Interesse an Punkrock und Marxismus. Ian Fisher dagegen sehr. Er handelte sich mit seinen Überzeugungen einigen Frust ein. Auch wenn es im 90 km entfernten St. Louis durchaus Gleichgesinnte gab – gute Republikaner mit entschiedener Abneigung gegen Kommunisten hatte er in großer Zahl vor der Haustür. Einige davon auch dahinter. Schnell durfte er lernen, dass das Diskutieren mit Erzkonservativen nicht viel brachte. Außer, dass er sich maßlos aufregte.

Also Songs schreiben. Musik machen. Erst Punk, dann Alternative, dann Indie und dann … Folk. Echten amerikanischen Folk, der dahinfließt wie der Mississippi. Und der manchmal so gewaltig gospelt, als hätte der Herr seinen Segen gegeben. Eine Entwicklung in Phasen, die klingt wie kontrolliertes Dampfablassen. Ist er doch eingeknickt gegen die Macht des Konservativen? Nein, sagt Fisher, es sei die Ehrlichkeit, die im Folk liege. Das habe ihn überzeugt. Und vielleicht auch die Ruhe, die er sich erst hart erarbeiten musste.

Heute, nach erfolgreichem Politikstudium und in einem Leben für die Musik, sieht er vieles gelassener. Aber er kann sich immer noch in Rage reden beim richtigen Thema. Zum Beispiel darüber, wie es kommt, dass, obwohl so viele Menschen seine CDs kaufen und Eintritt für seine Shows bezahlen, trotzdem kein Label mit ihm zusammenarbeiten will. Ein Widerspruch, an dem er fast verzweifelt. Nicht, weil es nicht auch so liefe wie bisher, sondern einfach, weil es ihm nicht in den Kopf geht.

Das war schon in Wien so, wo er ein Jahr lang ein Auslandsstudium absolvierte und natürlich hauptberuflich als Musiker auftrat. Und das ist auch in Berlin nicht anders, wo er jetzt wohnt. Ein Amerikaner, der im deutschsprachigen Raum lebt und Folk macht, dem unterstellt das Business, eben nicht gut genug für die Heimat zu sein. Ian kennt das. Und auch die reservierte Haltung gegenüber klassischem Folk im Allgemeinen. Aber er kann alle Zweifel zerstreuen, indem er sich auf eine Bühne stellt und spielt. Mit Begleitband oder ganz allein. Wenn Ian Fisher dann mit seiner inneren Energie und äußeren Ruhe Songs singt, die klingen wie alte Klassiker, dann ist klar, der Mann gehört vor Publikum, und zwar genau so wie er ist.

Ian Fisher & The Past
www.ianfisheronline.com
Unbedingt hören: »The Way To Go«

Der Artikel erscheint in der Melodie&Rhythmus 4/2012, erhältlich ab dem 29. Juni 2012 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch hier bestellen.

Ähnliche Artikel:

Anzeigen



TOP 10: April 2024

Liederbestenliste

Ältere M&R-Newsletter

Aus dem M&R-Archiv

Auf Ostfrontlinie gebracht
Nationalistische Parolen, Geschichtsklitterung, Hassexzesse, sogar Begeisterung für den totalen Krieg – einer wachsenden Zahl von Künstlern und Intellektuellen ist offenbar jedes Mittel recht, um sich der neuen Volksgemeinschaft gegen Russland anzudienen. weiterlesen

Melden Sie sich für unseren Newsletter an

Rudolstadtfestival 2023: Viva Cuba

Fotos von Katja Koschmieder und Jens Schulze weiterlesen

In eigener Sache

Stellenausschreibung
Die Verlag 8. Mai GmbH sucht eine Kulturredakteurin (m/w/d) für die Melodie & Rhythmus

*****************

Wenn die Kraft fehlt
Weshalb der Verlag 8. Mai das Kulturmagazin Melodie & Rhythmus einstellt

Leider müssen wir heute eine schmerzliche Niederlage eingestehen: Das Magazin für Gegenkultur Melodie & Rhythmus (M&R) kann nicht weiter erscheinen. Das hat verschiedene Gründe, sie sind aber vor allem in unserer Schwäche und in der der Linken insgesamt zu sehen. weiterlesen

*****************

»Man hat sich im ›Grand Hotel Abgrund‹ eingerichtet«
Zum Niedergang des linken Kulturjournalismus – und was jetzt zu tun ist. Ein Gespräch mit Susann Witt-Stahl

Ausgerechnet vor einem heißen Herbst mit Antikriegs- und Sozialprotesten wird M&R auf Eis gelegt – ist das nicht ein besonders schlechter Zeitpunkt?
Ja, natürlich. … weiterlesen

logo-373x100

Facebookhttps://www.facebook.com/melodieundrhythmus20Twitter20rss

Jetzt abonnieren

flashback