Coronapandemie
Die Pandemiekrise hat viele Menschen in den reichen Industrieländern in existenzielle Nöte gestützt und wird ihr Leben nachhaltig verändern. Dabei rücken die Tragödien, die sich im globalen Süden abspielen, häufig in den Hintergrund. Dass Frauen in urpatriarchale Verhältnisse zurückkatapultiert werden, sogar ganze Völker von Auslöschung bedroht sind, ist Anlass genug für eine Erweiterung unseres Horizonts – M&R lässt Künstler aus Brasilien, Sudan und Ägypten zu Wort kommen. …
Es geht um die Zukunft der gesamten Menschheit
Interview: Sonja Heller
Wie ist die gegenwärtige Coronakrisensituation in Brasilien, vor allem für die indigene Bevölkerung?Alles weist darauf hin, dass Brasilien zum neuen Epizentrum der Pandemie geworden ist. Das ist umso empörender, wenn man bedenkt, dass unsere Regierung genügend Zeit hatte, sich darauf vorzubereiten und zumindest das Virus ernst zu nehmen. In den Dörfern der Reservate gibt es kein Gesundheitssystem und keine Medikamentenversorgung. Ein paar Indigene versuchen, Corona auf eigene Faust mit traditionellen Heilmitteln zu behandeln. Einige haben beschlossen, sich im Dschungel zu isolieren, um der Ansteckung auszuweichen. Indigene, die in der Stadt leben, besonders in Manaus, müssen sich mit der gesamten nichtindigenen Bevölkerung um die wenigen freien Betten in den Hospitälern streiten. Die für sie zuständigen staatlichen Organisationen wie die Secretaria Especial de Saúde Indígena und die Fundação Nacional do Índio haben keine Pandemiepläne für die indigene Gemeinschaft entwickelt. Das schlägt sich nun in den Todeszahlen nieder. Bis jetzt ist das Volk der Kokama am stärksten von Covid-19 betroffen. Mindestens 45 Mitglieder sind bereits gestorben.
Ende April starb Professor Aldenor Basques Félix Gutchicü, das erste indigene Opfer von Covid-19. Mitte Mai vermeldeten die Medien den Tod von Messias Kokama. Was bedeuten diese Verluste von bedeutenden Anführern für Sie?
Sie haben große Traurigkeit in unserer Gemeinschaft ausgelöst, umso mehr vor dem Hintergrund des Widerstands, in dem wir leben müssen. …
Djuena Tikuna ist Sängerin, Komponistin und Journalistin vom Volk der Tikuna im Amazonasgebiet. 2008 wirkte sie an dem Album »Cantos Indígenas« von indigenen Musikgruppen aus Manaus mit. Ihre Musik ist Teil ihres politischen Engagements. Im Jahr 2017 veröffentlichte sie ihr Soloalbum »Tchautchiüãne«, das im Jahr darauf bei den Indigenous Music Awards in Winnipeg für die Kategorie »Best International Indigenous Release« nominiert wurde.
Foto: Diego Janatã
Neue und alte Normalzustände
Khalid Albaih
Was gerade passiert, beunruhigt auch mich. Wie jeder andere in meiner Umgebung mache ich mir Sorgen wegen der Coronapandemie. Gleichzeitig amüsieren mich aber auch die unzähligen Artikel, die derzeit in US-amerikanischen und europäischen Medien veröffentlicht werden und in denen Experten erklären, dass die vielfältigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf der ganzen Welt zu einer »neuen Normalität« führen werden.Es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss, aber Ihre »neue Normalität« ist für Milliarden dunkelhäutiger – brauner und schwarzer – Menschen weltweit die alte Normalität. Für viele von uns sind Einschränkungen, Unterdrückung und Entbehrungen ein fester Bestandteil unseres Alltags. …
Übersetzung: Bastian Tebarth
Der englische Originaltext ist in einer längeren Fassung auf Al-Dschasira erschienen.Khalid Albaih ist ein sudanesischer Künstler und Karikaturist, der 1980 in Bukarest in Rumänien geboren wurde. Seit 1990 lebt und arbeitet er in Doha, der Hauptstadt von Katar. Seit einigen Jahren schreibt er politische Kommentare, etwa für The Guardian und Al-Dschasira. Seine Zeichnungen veröffentlicht er in den sozialen Medien unter dem Namen »Khartoon!« (ein Wortspiel aus »Cartoon« und »Khartum«, dem Namen der Hauptstadt des Sudans).
Foto: privat
Gelegenheit für notwendigen Wandel
Interview: Stefan Donath
Was bedeutet die gegenwärtige Krise für die arme Bevölkerung und die Frauen in Ägypten?Unterprivilegierte Gruppen leiden besonders, weil sie nicht über die ökonomischen Mittel verfügen, um sich an die Anordnungen des Lockdowns halten zu können. Eine hohe Anzahl von Familienmitgliedern in einer Wohnung vereinfacht natürlich nicht die geforderten Schutzmaßnahmen. Dramatisch ist die Situation für Frauen, die in einem Haushalt gleichzeitig ihre Eltern und ihre Kinder versorgen müssen – besonders wenn es viele sind und es an grundlegender Hygiene mangelt. Der ägyptische Staat hat eine sofortige Nothilfe für freiberuflich tätige Arbeiterinnen aufgelegt. Aber viele Frauen, die als Betreuerinnen oder Haushaltshilfen beschäftigt werden, sind nicht einmal als solche ausgewiesen und werden ohne soziale Solidarität nicht überleben können.
Hierzulande wird derzeit vor einer Retraditionalisierung gewarnt: Frauen führen wieder den Haushalt, sie betreuen die Kinder und müssen ihre Arbeitszeit reduzieren. Wie ist die Entwicklung in Ägypten – werden die Errungenschaften im Kampf für Gleichberechtigung verspielt?
Es scheint in der Tat so, dass die Verantwortung für die Gesundheit und Hygiene von Familie und Haushalt nun wieder an Frauen delegiert wird. …
Nora Amin ist Tänzerin, Choreografin und Schriftstellerin. Im Jahr 2000 hat sie in Kairo die Lamusica Independent Theatre Group gegründet, um mit neuen Formen körperlichen Ausdrucks zu experimentieren. In ihren Arbeiten setzt sie sich intensiv mit dem Widerstand gegen Patriarchat und Rassismus auseinander. Seit 2015 lebt sie in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der politisch-biografische Essay »Weiblichkeit im Aufbruch« (2018) über ihre Erfahrungen während des Arabischen Frühlings.
Foto: Jacob Stage
Die kompletten Beiträge erscheinen in der Melodie & Rhythmus 2/2020, erhältlich ab dem 26. Juni 2020 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.