Kultur und Gegenkultur des »Rock’n’Roll-Krieges«
Susann Witt-Stahl
Am 1. Mai 1975 waren weltweit aus den Demonstrationen zum höchsten Feiertag der Arbeiterbewegung Parolen wie »Alle auf die Straßen – rot ist der Mai / Alle auf die Straßen – Vietnam ist frei!« zu vernehmen. Einen Tag zuvor waren die T-54-Panzer der nordvietnamesischen Armee zum Doc-Lap-Palast in Saigon gerast und hatten das Ende des Regimes des Diktators Nguyen Van Thieu besiegelt. »Wenn dieser Morgen kommt / Und dieser Sieg / Wird große Arbeit sein / Im abgebrannten Land / Doch es gehört dem Volke«, lautete eine Vision der DDR-Liedergruppe Oktoberklub. Während die einen dem Morgenrot einer sozialistischen Gesellschaft entgegenblinzelten, setzte für die anderen die Abenddämmerung ein. Für die US-amerikanischen Aggressoren, die in Vietnam mit blutigen Massakern, Terrorbombardements und C-Waffen barbarisch gewütet und nichts als verbrannte Erde und einen gigantischen Leichenberg hinterlassen hatten, hieß es nun: »Goodnight Saigon«, wie Billy Joel sang, sieben Jahre nachdem der letzte Army-Helikopter nach Abspielen von Bing Crosbys »White Christmas« (dem über die Radiosender ausgestrahlten Evakuierungscode für westliche Ausländer und Günstlinge der südvietnamesischen Regierung) vom Dach der US-amerikanischen Botschaft abgehoben hatte.
Joels tragikomische Retrospektive auf den Schicksalsweg Tausender junger US-Amerikaner vom Marine-Rekrutencamp Parris Island bis zum Tod auf einem Reisfeld in Indochina war einer der wenigen Songs aus der Sphäre Pop-Rock, die mit dem Mythos »Vietnam« brachen: »We had no home front / We had no soft soap / They sent us Playboy / They gave us Bob Hope«, textete Joel mit beißender Ironie und spielte mit einem weitverbreiteten Klischee: »We passed our hash pipe / And played our Doors tapes.« Diese Bilder von ehemals glattrasierten, braven US-Boys, die sich in Vietnam innerhalb kürzester Zeit in dauerbekiffte wilde Hippie-Krieger mit Transistorradio am Ohr verwandelten, sind im kollektiven Gedächtnis der westlichen Welt haften geblieben. Auch wenn derartige Szenen in vielen Militärcamps zwischen Bien Hoa und Hué zu beobachten waren, so spiegelten sie in den ungezählten Vietnam-Filmen und -Songs oftmals weniger den real existierenden Krieg als die Resultate struktureller Veränderungen in der Kulturindustrie wie deren notwendigen Strategiewechsel wider. Denn in dem Zeitraum Ende der 60er- bis hinein in die 80er-Jahre zog ihr im Zweiten Weltkrieg noch bewährter grenzenlos kitschiger Stars-and-Stripes-Patriotismus und -Heroismus nicht mehr.
Dass kriegsverherrlichende Produktionen wie Maybelle Carters »I Told Them What You’re Fighting For« und »The Ballad of the Green Berets« von Staff Sergeant Barry Sadler aus dem Jahr 1966, eine pathostriefende Hymne an die United States Army Special Forces (1968 war sie noch in John Waynes vom Pentagon gesponserten Propagandafilm »Green Berets« zu hören), in den Billboard- Hot-100 und anderen Charts zu Hits werden konnten, geschah selten und vorwiegend zu Beginn der US-Militäroffensive. Spätestens als die ersten Gräueltaten an der vietnamesischen Zivilbevölkerung ans Tageslicht kamen, wurden die Troubadoure der amerikanischen »freedom and democracy« übertönt – nicht zuletzt durch Stimmen aus den Schützengräben der eigenen Frontlinie: »Vietnam war an seinem Geruch erkennbar. Dem Geruch. Du hast das Napalm gerochen, und du hast den Geruch verbrannten Menschenfleisches in der Nase gehabt« – sprach ein unbekannter GI eine bittere Wahrheit aus, der unzählige folgen sollten.
Den kompletten Artikel lesen Sie in der Melodie und Rhythmus 3/2015, erhältlich ab dem 30. April 2015 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.
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