Melodie & Rhythmus

Utopie und Pragmatismus

16.03.2021 14:44
Szene aus »Fúria« Foto: Sammi Landweer

Szene aus »Fúria«
Foto: Sammi Landweer

Lia Rodrigues‘ Companhia de Danças vermittelt den Bewohnern der Favela von Maré künstlerische Lichtblicke und leistet praktische Hilfe, wo die Regierung versagt

Etwa 140.000 Menschen leben in Maré, einer der größten Favelas von Rio de Janeiro. Die Bewohner fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen. Es mangelt an allem: besonders an einer guten Infrastruktur und ausreichenden Gesundheitsversorgung. »Obwohl die Politiker den Menschen hier jeden Tag ein Nein entgegenschmettern, antworten diese darauf mit einem klaren Ja. Sie wissen, was Widerstand bedeutet«, berichtet die Choreografin Lia Rodrigues im Gespräch mit M&R.

Seit mittlerweile 30 Jahren ist ihre Companhia de Danças immer wieder mit Gastspielen im In- und Ausland unterwegs. 2004 regte ihre Dramaturgin Silvia Soter eine Kooperation mit Redes da Maré an – einer Nichtregierungsorganisation, gegründet von ehemaligen und gegenwärtigen Bewohnern der Favela. Seitdem werden gemeinsam kostenlose künstlerische und pädagogische Projekte entwickelt. 2009 entstand daraus sogar ein eigenes Kunstzentrum, zwei Jahre später eine freie Tanzschule. In den angebotenen Kursen wird auch eine kritische Reflexion von Kunst und Gesellschaft angeregt. Zudem bereitet die Schule ambitionierte Schüler auf eine professionelle Laufbahn vor – eine Möglichkeit, die normalerweise nur privilegierten Brasilianern offensteht.

Das soziale und politische Engagement in der Favela wird in den Stücken der Tanzcompagnie verarbeitet. Die aktuelle Produktion »Fúria« entstand während der letzten Wahlen in Brasilien und ist nicht zuletzt eine kritische Reflexion der Rechtsentwicklung, die damit vollzogen wurde. »Kampfgeist und Utopie sind in all meinen Aktionen präsent, das gilt für mich als Künstlerin wie als Bürgerin«, sagt Lia Rodrigues.

Seit Beginn der Coronapandemie hat sich die Lage in der Favela drastisch verschärft. Redes da Maré hat eine Hilfekampagne gestartet: »Maré diz NÃO ao Coronavírus« (Maré sagt Nein zum Coronavirus). Nun wird das Kunstzentrum als Hauptdepot benutzt, um Essens- und Wasservorräte, Schutzmasken sowie Desinfektions- und Reinigungsmittel zu lagern. Bei der Verteilung der Güter helfen auch die Tanzschüler. »Kunst, Kultur und Gesellschaft greifen hier ineinander«, freut sich Lia Rodrigues über die effiziente Nutzung der Räume für eine direkte humanitäre Unterstützung von Notleidenden. Allerdings droht dem Dach der Einsturz, und damit wäre auch die Solaranlage gefährdet, die das Haus mit Strom versorgt. Redes da Maré hat mehrere Spendenkampagnen ins Leben gerufen, um die Reparatur finanzieren zu können.

Sonja Heller

Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2021, erhältlich ab dem 19. März 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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