Melodie & Rhythmus

»Es ändert sich zu wenig«

29.03.2017 14:04
Foto: Promo

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Der Kabarettist Christoph Sieber mahnt eine gerechtere Gesellschaft an

Interview: Fabian Schwinger

Herr Sieber, mit dem Programm »Hoffnungslos optimistisch« sind Sie jetzt seit anderthalb Jahren auf Tour – eine ereignisreiche Zeit. Bereit für eine Aktualisierung?

Das ist ja die Krux am Kabarettisten-Dasein. Ich weiß von vielen älteren Kollegen, dass die sehr frustriert sind, weil sie die Nummern, die sie vor 30 Jahren gespielt haben, heute immer noch spielen könnten. Man muss letztendlich nur ein paar Namen austauschen, aber die großen Themen sind die gleichen geblieben. Frau Merkel oder Herr Schulz sind für mich irrelevant. Ich halte sie einfach nur für Vertreter der herrschenden Politik, die aktuell im Scheinwerferlicht stehen. Mich interessieren die großen Themen, die diese Gesellschaft prägen: der Zustand des Gesundheits- und Bildungssystems, Korruption, das Elend der Dritten Welt − die ganzen Auswirkungen von Kapitalismus und Globalisierung. Die Grundfragen bleiben ja die gleichen. Es ändert sich zu wenig. Und wenn sich was ändert, dann sehr langsam.

Sie unterhalten auf der Bühne nicht nur, sondern heben mitunter auch den Zeigefinger. Haben Sie keine Angst vor der Moralkeule?

Ich habe kein Problem damit, moralisch zu sein. Es hat ja eine Werteverschiebung stattgefunden, wie man am Begriff »Gutmensch« sehr gut ablesen kann. Moral an sich stellt in der neoliberalen Gesellschaft keinen Wert mehr dar, weil er sich monetär nicht darstellen lässt. Alles, was wir den Menschen in unserem Umkreis Gutes tun, ist für die neoliberale Gesellschaft völlig uninteressant, weil sich davon wirtschaftlich nicht profitieren lässt.

Aber muss diese Kritik dann gleich auf Kosten der Pointe gehen?

Ich will auf der Bühne nicht gefallen. Ich genieße die Momente, in denen es total still wird, wo überhaupt nicht mehr gelacht wird und alle merken: Jetzt haben wir einen Punkt erreicht, wo es zur Sache geht. Da fängt es an, spannend zu werden. Im Kabarett hat man sehr lange gut davon gelebt, dass Publikum und Künstler sich zusammengefunden haben und man sich einig war in seiner Haltung, wie die Welt auszusehen hat. Da herrschte eine Abmachung. Die Leute haben an den richtigen Stellen applaudiert − man wusste, wann geklatscht werden muss. Es gab z. B. klare Abgrenzungen gegen rechts. Und diesen Automatismus versuche ich so ein bisschen aufzudröseln in bestimmten Punkten.

Besteht diese Abmachung nicht weiterhin? Gegen die AfD oder Trump zu sein, ist unter Ihren Zuschauern doch Konsens.

Das täuscht. Ich glaube, dass Trump auch in der Bevölkerung in Deutschland nicht unbedingt nur Gegner hat. Da wird es auch viele geben, die über ihn sagen: Das ist mal der richtige Mann an der richtigen Stelle. Nach seiner Wahl habe ich in einem YouTube-Video die Schraube noch ein bisschen weiter angezogen und gemeint, dass ich über seine Wahl froh bin. Hillary Clinton steht letztlich für ein So-Weitermachen-wie-bisher, und das war den Leuten ja schon bewusst. Natürlich ist Trump eine riesige Gefahr, keine Frage. Trotzdem glaube ich, dass die Welt vielleicht diese Rosskur durchmachen muss. Schaffen wir es, einen faschistoiden Rassisten im Zaum zu halten oder wiederholt sich die Geschichte? Letzteres ist möglich, dessen müssen wir uns bewusst sein.

Zu den Problemen, die Sie regelmäßig ansprechen, gehören Armut und soziale Ungleichheit. Wie aktuell ist für Sie Karl Marx’ Theorie des Klassenkampfs?

Ich finde es spannend, dass jenes Prin- zip, das Marx schon vor sehr langer Zeit erkannt hat, bis heute Gültigkeit besitzt. Dass wir eine gerechte Gesellschaft brauchen, leuchtet eigentlich allen ein außer diesem einen Prozent ganz oben. Und man hat’s geschafft, die »Mitte der Gesellschaft«, die ja auch politisch so umkämpft ist, dahin zu bringen, dass sie dieses eine Prozent, das so stark profitiert, weiter unterstützt. Weil man den Leuten Angst macht: »Wenn du das nicht mitträgst, geht hier alles ins Chaos über!« Der Kapitalismus ist auf seiner Zielgeraden angekommen, davon bin ich überzeugt. Wir müssen eine neue Art des Zusammenlebens finden.

Das Interview erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2017, erhältlich ab dem 31. März 2017 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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