Melodie & Rhythmus

Akne und Auschwitz

29.03.2017 14:27
Fotos (Montage): Reuters / Lucy Nicholson; Luke MacGregor

Rupert Murdoch (re.)
Fotos (Montage): Reuters / Lucy Nicholson; Luke MacGregor

Wie das Vicemagazin sein jugendliches Publikum aus der wahren Welt in die Warenwelt katapultiert

Susann Witt-Stahl

Vice erfreut sich bei konsumorientierten »GenerationY«-Hipstern und urbanen Szenegängern ebenso großer Beliebtheit wie bei jungen Linken. Kein Wunder, denn das Mitte der 90er Jahre in Kanada gegründete Lifestyle-Magazin berichtet nicht nur über Sexualität, Konsumgüter, Drogen und moderne Subkulturen, sondern auch über Rechtsradikalismus, globale Krisen und militärische Konflikte und konnte sich mit dem Label »unbequemer Journalismus« den Ruf eines kritischen Underdog-Mediums mit subkulturellem Charme erwerben.

Dabei bildet die werbefinanzierte Print- und Online-Zeitschrift das Gravitationszentrum eines gewaltigen Medienimperiums: Vice Media bringt mittlerweile in mehr als 30 Ländern (darunter sogar Russland und China) lokale Ausgaben heraus und unterhält diverse Sparten-Publikationen, wie das Internet, Musik- und Partykultur-Portal Noisey und das Nachrichten-Magazin Vice News. Auch ein eigenes Musiklabel, eine Filmproduktionsfirma und ein Buchverlag gehören dazu. 2016 schob der geschätzt 2,5 bis 3,8 Milliarden Euro schwere Konzern – laut Guardian konnte er 2015 seine Umsätze in Europa von 68,6 Millionen aus dem Vorjahr auf 138 Millionen verdoppeln – mit Viceland noch einen eigenen TV-Kanal nach, der in diesem Jahr auch in Deutschland auf Sendung gehen soll.

Bereits 2013 hatte Medientitan Rupert Murdoch, der mit Fox News und anderen Propaganda-Organen regelmäßig US-amerikanische Kriege und Hasskampagnen gegen die Friedensbewegung befeuert, seine Möglichkeiten bei den rund 130 Millionen Lesern des gratis erhältlichen Magazins für sich entdeckt. Er kaufte sich mit 52 Millionen Euro bei Vice Media ein. Schon 2011 hatte u. a. die weltweit größte Werbeholding WPP mit 283 Millionen zugelangt, 2015 zog der Disney-Konzern mit 377 Millionen Euro nach.

Vice Deutschland existiert seit 2005. Die Redaktion, die von anfangs fünf auf rund 200 Mitarbeiter angewachsen ist, hat ihren Sitz imagegemäß in einem Hinterhof in Berlin-Mitte. Aber dass hier weit und breit keine kritische Substanz für Berichterstattung auszumachen ist, geschwei- ge denn Analysen wider den marktradikalen Zeitgeist unternommen werden, das indiziert schon das Line-up ihrer Mitglieder: Chefredakteurin Laura Himmelreich kommt vom Boulevardmagazin Stern, und auch das Gros ihrer Kollegen hat im neoliberalen Mainstream Karriere gemacht: ZDF, MDR, Die Welt, Focus, Die Zeit, Neon, Spiegel Online, taz, Huffington Post. Die Chefredakteurinnen der Vice-Ableger Broadly, eines Frauenmagazins, und i-D Germany, einer Modezeitschrift, finden sich in der Forbes-Liste »The 30 Under 30 Europe: Media«.

»Deutschland muss für eine Prise Sex und Perversion herhalten«, lautet die Ansage von Benjamin Ruth, Geschäftsführer von Vice Deutschland. Entsprechend liefern die Vice-Macher in Berlin allerlei Bizarres, Abgerauchtes und Unappetitliches: »Deshalb drücken wir so gerne Pickel aus«, »Darf man beim Feiern in Frauenmünder pissen?« – Themen, die bisher vorwiegend Superillu-Leser bewegt haben. »Ich war mit einem Vibrator im Club, der von der Musik gesteuert wurde«, so das Bekenntnis einer Autorin, »Ich fand mich selbst eklig« das eines »Hatefuck-Aussteigers«. Die Lebenswirklichkeit in Deutschland – eine einzige Freakshow.

Aber nicht nur abgefahrener Sex und Igitt-Themen, auch Krieg und Gewalt werden von Vice als »heißer Scheiß« gehandelt, wie es im Hipster-Jargon heißt. Unter dem Titel »Waterboarding is for Pussies« wird ein »repräsentativer Querschnitt durch die schmerzhafte Landschaft des Folterns« präsentiert – Barbarei als letzter Schrei? Und natürlich weiß Vice: »So abgefuckt ist der Krieg in Afghanistan wirklich«.

Keine Möglichkeit für einen geschmacklosen Tabubruch bleibt ungenutzt. »There is no business like Shoah-Business« – die finanzielle Ausschlachtung des Holocaust, wie sie dem ehemaligen israelischen Diplomaten Abba Eban in den 1950er-Jahren bitter aufstieß, ist für Vice offenbar längst ein attraktives Geschäftsmodell: »Diese Ausch witz-Überlebende hat den Enkel ihres KZ-Kommandanten adoptiert«, ist unter der Rubrik »Stuff« (Zeugs) eine Geschichte über »gelebte Versöhnung« zu lesen, als hätte zwischen der SS und ihren Opfern eine Meinungsverschiedenheit bestanden – »Es gab nicht nur die reale Banalität des Bösen, sondern es gibt heute auch das Böse der Banalisierung dessen, was, statt sich ans Unsägliche heranzutasten, längst zur Allerweltsparole degeneriert ist« (Moshe Zuckermann). Und noch mehr Kurioses über Juden weiß Vice zu berichten und lässt den israelischen, in Sachsen-Anhalt aufgewachsenen Autor Shahak Shapira rekapitulieren, wie »ein Hitler-Double« bei ihm »den Schornstein fegte« und ihn »eine BiFi vom Judentum abgebracht hat«. Und tatsächlich: Er meint die »dünne, lange Salamiwurst, fettig genug, um eine großzügig verteilte Akne ein ganzes Jahr aufrechtzuerhalten.«

Aber nicht nur Fressen und Gefressen-Werden, auch ein bisschen (Doppel-)Moral hat das Magazin im Angebot: Während es die Mordbrenner, die den prowestlichen Kiewer Maidan in eine faschistische Revolte führten, immer wieder als »radikale Demonstranten« und »Verteidigungsgruppen« verniedlicht, prangert es immerhin die Umtriebe von hiesigen Neonazis, Pegida und AfD an. Aber auch das nahezu aufklärungsfrei: Die Erscheinungen des Rechtstrends werden grell überzeichnet und bei jeder sich bietenden Gelegenheit sexualisiert (»Vielleicht kommt heute endlich der Pegida-Por- no«), sein Wesen verschleiert. Wenn die seit jeher geltende Wahrheit, dass hinter dem Faschismus das Kapital steht, unter allen Umständen im Dunkeln bleiben muss, stellt sich das Aufbegehren gegen rechts als Mission gegen das metaphysische Böse dar – und Antifaschismus verkommt zur Ideologie. Ein falsches Bewusstsein vermittelt Vice auch von sozialen Kämpfen. Damit die nach spektakulären Erlebnissen hungernden Youngster im Dau- erflash-Modus gehalten werden können, muss ihnen das Ringen um linksliberale Reformen und Reförmchen als der große Aufstand verkauft werden. Vice-Reporter Marcus Staiger gibt den linken Aktivisten mit Street Credibility und vermittelt exklusive Einblicke in das Outlaw-Dasein der autonomen Szene. Er ruft sogar schon mal zu Solidarität mit den »Refugees« gegen Polizeigewalt auf oder begleitet Tierschützer beim unbefugten Filmen von Missständen in der Massentierhaltung. Vice-Reportagen leben vom Nacht-und-Nebel-Adventure- Kick und atmen die Ästhetik des Widerstands – gegen Zustände, über die auch grüne Innenminister, Bauernverbandsfunktionäre und Krauss-MaffeiManager untröstlich sind. Solange die Todesprofiteure der Fleisch- und Rüstungsindustrie sowie alle anderen verbrecherischen ökonomischen Eliten von Vice-Recherchen unbehelligt bleiben, nicht der die ganze Welt in den Abgrund treibende Missstand Kapitalismus beim Namen genannt wird, nicht von »Klassenkampf« die Rede ist oder das noch schlimmere K-Wort fällt, unterliegt alles dem Imperativ der Postmoderne: »Anything goes.«

Das gilt auch für die Form der Themenvermittlung, die das Markenzeichen, das Benjamin Ruth für sein Produkt beansprucht – »Wir zeigen die Welt, wie sie wirklich ist« -, endgültig ad absurdum führt: Mit Storytelling im naiven Teenager-Tagebuch-Duktus trichtert Vice seinem Publikum ein, was garantiert nicht der Fall ist, und verheißt ihm ein Leben in Dauerkonsumrausch und dionysischen Ausschweifungen, das in der neoliberalen Gesellschaft maximal für das Happy One Percent zu haben ist. Vice biete Geschichten, »die auf eine Weise erzählen, die sehr subjektiv ist, aber in einer Welt, wo Objektivität wahnsinnig überbewertet wird und meiner Meinung nach sowieso nicht existiert, ein viel authentischeres Bild unserer Generation liefern als alles andere«, verrät Redakteurin Barbara Dabrowska ein Geheimnis des Erfolgs. Er musste sich unweigerlich einstellen in einer Welt, die sich zunehmend an »alternativen Fakten« orientiert.

Der Artikel erscheint in der Melodie & Rhythmus 2/2017, erhältlich ab dem 31. März 2017 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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