Melodie & Rhythmus

Zukunftsmusik

22.02.2016 14:54

editorial

Die Zukunft ist ein heftig umkämpftes Terrain. Wenn heute US-amerikanische IT- und High-Tech-Konzerne im Silicon Valley, u. a. Google und Lockheed, einer neuen, dem Menschen überlegenen »künstlichen Superintelligenz« huldigen, dann wird die Intervention in eine derart schaurige Agenda mittel- und langfristig zur Überlebensfrage. Bedenkt man, dass die Kulturindustrie, vor allem Hollywood, der massenwirksamste Hauptakteur der Propaganda für die Maschinenherrschaft über Mensch und Natur ist, dann versteht sich von selbst, dass fortschrittliche Kulturkritik heute mindestens so dringend Einspruch erheben muss wie zu der Zeit, als der marxistische Philosoph Walter Benjamin seinen Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« verfasst hat – vor genau 80 Jahren. M&R würdigt in diesem Heft nicht nur Benjamins damals (angesichts der Hegemonie der faschistischen »Kulturrevolution «) einsamen Protest aus dem Exil gegen die Verherrlichung des modernen Krieges und seiner Zerstörungskraft durch protofaschistische italienische Futuristen. Wir zeigen vor allem, dass Benjamins Thesen zu der verhängnisvollen Affäre zwischen Krieg, Faschismus, Kunst und Kulturindustrie, die in der »Ästhetisierung der Politik« (sie hat sich als Strukturmerkmal des Neoliberalismus etabliert) ihren Ausdruck findet, erschütternd aktuell sind. Und wir meinen, es ist höchste Zeit zur Kenntnis zu nehmen, dass Filippo Tommaso Marinettis Traum von der »Metallisierung des menschlichen Körpers« längst in den Transhumanisten des Silicon Valley glühende Bewunderer gefunden hat, die die Realisierung dieser Dystopie im Höllentempo vorantreiben.

Aber M&R redet auch nicht einer Kultur das Wort, die aus lauter Angst vor der Zukunft der Nostalgie verfällt oder in der Konservierung der Gegenwart ihr Heil sucht. Erich Fried hatte recht, als er diejenigen, die darauf pochen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, als diejenigen entlarvte, die objektiv dafür plädieren, dass die Welt nicht bleibt. Daher geben wir Ideen für eine bessere Zukunft und Utopien viel Raum in diesem Heft: von den russischen Futuristen und ihrer Vision der Synergie der Revolution der Kunst und der Gesellschaft bis hin zur »Star Trek«-Crew und ihren subversiven Anfängen, der Sehnsucht der Space-Rocker nach sexuellen und anderen lustvollen Ausschweifungen im Weltraum, den Afrofuturisten, die die Schwarzen in einer Untertasse Diskriminierung und Sklaverei entkommen ließen, wie der DDR-Science-Fiction, die Solidarität mit bedrohten Klassenbrüdern im All intergalaktisch praktizierte. Und wir erlauben uns, darauf hinzuweisen, dass die Tonkunst als autonome Zeitkunst unweigerlich durch den Imperativ der Formüberbietung in der Moderne nicht zuletzt »Zukunftsmusik« ist.

Auch und gerade wenn es um die Hoffnung auf ein lebenswertes Morgen geht, halten wir denjenigen weiter die Treue, für die eine Zukunft der Menschheit überhaupt klar und deutlich sichtbar ist: den Ausgebeuteten und Unterdrückten. Und nun, liebe Leser, lassen sie uns gemeinsam »von unten her«, wie es Bert Brecht in seinem »poetischen Prinzip« forderte, in die unendlichen Weiten der Zukunft schauen …

Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R

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