Melodie & Rhythmus

Weisse Haut, schwarze Masken

14.12.2021 10:42
 Foto: Jorge Duenes / ReutersFoto: Jorge Duenes / Reuters

Foto: Jorge Duenes / ReutersFoto: Jorge Duenes / Reuters

Europa zeigt seit Jahrzehnten demonstrativ Reue für seine große Schande. Auf den Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter werden die nicht selten genozidalen Gewaltexzesse, Sklaverei und andere rassistische Menschenschinderei der kolonialen Vergangenheit wortreich bedauert und in wissenschaftlichen Publikationen aufgearbeitet. Aber während Politiker mit großer Büßergeste die Rückgabe geraubter Kunstschätze an deren rechtmäßige Besitzer in Afrika oder Asien im Blitzlichtgewitter der Pressefotografen zelebrieren, geht im Dunkeln der letzten Urwälder in Brasilien, der Coltanminen in Ruanda, der Textilfabrikhallen in Bangladesch die Ausplünderung der Verdammten dieser Erde und der Erde selbst unvermindert weiter. Meist kommt sie ideologisch verbrämt als »Handelsabkommen« und »Tourismus« daher und wird immer häufiger, militärisch durch Drohnen, zivil durch Big Data, von den Zentren des Imperiums aus digital gesteuert.

Es gibt sogar noch Regionen, deren Bevölkerung bis heute – entgegen dem geltenden Internationalen Recht – vergeblich auf ihre Entkolonisierung wartet: die Insel Guam im Westpazifik zum Beispiel mit der Andersen Air Force Base, dem US-Hauptluftwaffenstützpunkt in Ostasien. »Entschädigt« werden die enteigneten Indigenen mit KFC, Kmart, Edelshoppingmalls, an deren Fensterscheiben sie sich immerhin die Nasen plattdrücken können, und bei Laune gehalten mit Elvis-Imitatoren in den American Diners und »Hollywood Shooting« in Indoor-Schießständen mit Indianerfiguren (eine freundliche Warnung an alle, die noch nicht wissen, was Kolonisierten blüht, wenn sie sich widersetzen). Dieses bizarre Kitschkonsumghetto war ein Grund, die Fotoreportage dieser Ausgabe von M&R der Militärkolonie zu widmen, ein noch wichtigerer aber: Die Existenz und der stetige Ausbau solcher von der Weltöffentlichkeit abgeschotteten »Flugzeugträger« fernab der Küsten der USA bezeugt das infernale Potenzial des westlichen Imperialismus. Leider auch das Versagen der kritischen Zivilgesellschaft: Als die deutsche Fregatte »Bayern« vergangenen Spätsommer entsandt wurde, um den neuen Hauptfeind Beijing zur »regelbasierten Ordnung« zu rufen, und in Diego Garcia – Startbahn mitten im Indischen Ozean für die US-Bomber im Irak und Afghanistan-Krieg und Standort für ein berüchtigtes Foltergefangenenlager – einen (Anlege-)Platz an der Sonne bekam, gab es so gut wie keinen Protest.

Das sind nicht nur ideale Bedingungen für die Rechten, die auf den Spuren von Oswald Spengler und Carl Peters Kolonialverbrechen verniedlichen oder gar leugnen (und bei dieser Gelegenheit auch gleich einen Schlussstrich unter Auschwitz ziehen wollen), sondern auch für die Entsorgung wesentlicher marxistischer Erkenntnisse über die Dialektik der westlichen Aufklärung. »Wiewohl man im Namen der Intelligenz und der Philosophie die Gleichheit der Menschen verkündet, beschließt man in ihrem Namen auch ihre Ausrottung« – was Frantz Fanon 1952 über die Kolonialisten in »Schwarze Haut, weiße Masken« schrieb, die inzwischen »westliche Wertegemeinschaft« heißen, praktizieren heute progressive Ideologen, die nach der Devise »weiße Haut, schwarze Masken« agieren: Radikal »woke« überführen sie den obdachlosen Dreadlockfreak »rassistischer Kulturaneignung« und der Ausnutzung »weißer Privilegien«, während sie, im Bewusstsein von genau deren Macht und Wonnen, jeden (militanten) antikolonialen Widerstand als Angriff auf die »westliche Moderne« geißeln und einen rücksichtslosen »Krieg gegen den Terror« propagieren – wofür sie von Domenico Losurdo völlig zu Recht als »imperiale Linke« geschmäht wurden.

Liebe Leser, der französische Historiker Ernest Renan, ein wirtschaftsliberaler Rassist, sagte einmal: »Eine Nation, die nicht kolonisiert, ist unwiderruflich zum Sozialismus verdammt.« Ist es diese Aussicht nicht allein schon wert, den revolutionären Kolonisierten, die Fanons Forderung einlösen wollen – endlich selber den »neuen Menschen auf die Beine zu stellen« –, in ihrem Kampf beizustehen?

Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R

Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2022, erhältlich ab dem 17. Dezember 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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