Melodie & Rhythmus

Mit Bodenhaftung

14.12.2021 11:58

Brecht-Tage 2022 mit Werkstattgespräch über das revolutionäre Potenzial des Träumens in der Klassengesellschaft

Man darf angesichts des sich stetig verbreiternden Irrwegs des hegemonialen linksliberalen Diskurses rund um die »Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft« nicht müde werden zu fordern: Lest die Klassiker! Das hat sich offenbar auch Falk Strehlow gedacht. Der Berliner Literaturwissenschaftler und Dramaturg will zumindest Bert Brechts Klassenbegriff in die »heutige Antiklassismus-Debatte« einführen. Brechts Klarheit in Klassenfragen könnte hier durchaus hilfreich sein. Aber nicht nur der genannten Auseinandersetzung fehlt es an materialistischer Bodenhaftung. Letztere forderte Brecht auch für ein Phänomen ein, das zwar Erkenntnis produzieren kann, dessen Konturen aber meist sehr vage bleiben und das sich weniger mit einer konkreten verändernden Praxis – hier schließt sich der Kreis mit dem Klassismustheorem – als mit utopisch-idealistischem Denken verbindet: das Träumen.

Mit Träumen gerät man hier und da nicht nur in gesellschaftliche Sackgassen, aus denen auch keine juristische Antidiskriminierungsklage herauszuhelfen vermag, sondern es trägt oftmals sogar dazu dabei, die herrschenden Verhältnisse zu zementieren. Entsprechend lehnte Brecht am bürgerlichen Theater vor allem das ab, was mit der Produktion von Utopischem, Illusorischem und Realitätsfernem zu tun hat. Das Theater als »Stätte der Träume« und analog dazu die »Traumfabrik« Hollywoods waren für ihn Bollwerke gegen Einsicht und Veränderung. Brecht lässt dagegen nur ein Träumen gelten, das den Realitätssinn steigert. Welche Wirkkraft ein solches entfalten kann, hat er in seiner literarischen Arbeit eindrucksvoll demonstriert. Laut Strehlow findet man etwa im »Dreigroschenroman« in der Figur des Soldaten Fewkoombey Brecht’- sches Träumen. Auch die fünf Traumzwischenspiele des Parabelstücks »Der gute Mensch von Sezuan« vermögen »die Augen für gesellschaftliche Gegebenheiten zu öffnen«, so Strehlow im Gespräch mit M&R. Diesem produktiven Träumen möchte er während der Brecht-Tage im Literaturforum im Brecht-Haus am 11. Februar 2022 unter dem Titel »Brecht und Klasse und Traum« mit Vorträgen, Workshops und Podiumsdiskussionen nachspüren: »Es gilt, Deutungen von Brecht-Träumen herauszuarbeiten, die dem Realismus verpflichtet sind – Traumdeutungen mit ›Bodenhaftung‹.«

red

Der Beitrag erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2022, erhältlich ab dem 17. Dezember 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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