Melodie & Rhythmus

Everlasting Love

14.12.2021 12:21
Foto: Kelvin Boyes / Press Eye

Foto: Kelvin Boyes / Press Eye

Kenneth Branagh bringt mit seinem neuen Spielfilm »Belfast« eine große Liebeserklärung auf die Leinwand – nicht nur an seine Heimatstadt. M&R traf den Regisseur und Schauspieler in Hamburg

Susann Witt-Stahl

Im Spätsommer 1969 hat die Eskalation des Nordirlandkonflikts Belfast erreicht. Aber der neunjährige Buddy, seine Eltern und sein Bruder Will genießen in der Arbeitersiedlung, in der sie wohnen – in Sandy Row oder sonstwo, der Ort ist nicht genau bestimmt –, noch ein recht unbeschwertes Leben. Hinter den Dächern der Häuserblocks sind die Kräne von großen Werften wie Harland & Wolff zu sehen, wo 1911 die Titanic vom Stapel gelaufen war. Die Entbehrungen und die Enge in den kleinen dunklen Wohnungen und Hinterhöfen, wo sich vorwiegend die Väter vor den Toilettenhäusern zum gemeinsamen Heimwerken, Rauchen und Bereden von »Männersachen« treffen, haben die Menschen zu einer solidarischen Gemeinschaft zusammengeschweißt. In deren Schoß darf man Schwächen zeigen, etwa beim fröhlichen Beisammensein am Wochenende auf der Straße stockbesoffen furchtbar falsch »Danny Boy« zum Besten geben oder sogar der unterdrückten katholischen Minderheit angehören. »Es gibt keine ›unsere Seite‹ und ›ihre Seite‹ in unserer Straße«, lehrt sein Vater, ein Protestant, Buddy. Das Miteinander der Menschen dort darf nicht wegen der »Bloody Religion« zerstört werden.

In dieser beinahe idyllischen proletarischen Lebenswelt war Kenneth Branagh aufgewachsen. Der Bürgerkrieg hatte sie erschüttert, der Thatcherismus sie niedergewalzt und der Blairismus ihr schließlich den Rest gegeben. Mit seinem Spielfilm »Belfast« hat Branagh diese zutiefst menschliche Welt durch die Erlebnisse, Erfahrungen, Projektionen und Visionen von Buddy – seinem fiktionalisierten Alter Ego – nun wiederauferstehen lassen. Seine eigene Biografie liefert den Ausgangspunkt und Grundstock der Geschichte eines kleinen Jungen, der sich vor vitaler Freude und Energie strotzend in einem Abenteuerland mit Matchbox-Auto-Rennen und Fußball, vor allem aber Kinofilmen tummelt und alles, was ihn umgibt, im Schwarz-Weiß-Modus der von ihm so heiß geliebten Western betrachtet. »You are looking for trouble?«, imitiert Branagh James Stewart und erzählt, dass die Helden dieses Genres, in dem es nur Gut und Böse gab, immer der »Good Guy« überlebte und am Ende das Mädchen bekam, im »moralischen Universum« seiner Kindheit den Ton angegeben hatten.

Nur konsequent, dass »Belfast« fast ausschließlich in Schwarz-Weiß gedreht wurde. Dafür habe er sich auch entschieden, so Branagh, weil es den Film auf eine gewisse Art »authentischer, realer, der damaligen Zeit gemäßer« erscheinen lasse. »Es ist eben nicht so, wie wir die Welt sehen, und so hat das Ganze eine paradoxe poetische Wirkung.« Ohne diese Chiaroscuro-Poesie kann auch keine gelungene Liebeserklärung an einen Menschenschlag entfaltet werden, dessen Angehörige »am Sonntagmorgen noch halb im Schlaf fremden Besuchern ›Oh, kommt doch rein‹ sagen und einem noch in Unterwäsche Toast und Tee anbieten«, wie Branagh von seinen Vorrecherchen für den Film berichtet, die er 2020 in seiner Heimatstadt unternommen hat. Sein Bemühen um eine Form, die nicht den wirklichen Alltag der nordirischen Working Class in den 60er-Jahren naturalistisch abbildet, sondern, teilweise durch Stilisierung, herausarbeitet, dass er wirklich auch glückliche, heitere und anrührende Momente hatte, wird unterstrichen durch die coronabedingte Entscheidung, die Spielhandlungsszenen nicht an Originalschauplätzen zu drehen, sondern in einer klischeetypischen Arbeiterviertelkulisse, die man auf einer Freifläche des Farnborough Airports im englischen Hampshire aufgebaut hatte.

Die Eltern, »Ma« (Caitriona Balfe) und »Pa« (Jamie Dornan), geben Buddy (Jude Hill) und Will (Lewis McAskie) – mit tatkräftiger Unterstützung von »Granny« (Judi Dench) und Großvater »Pop« (Ciarán Hinds), einem ehemaligen Bergmann – ein liebevolles Zuhause. Dies trotz Existenzsorgen und obwohl der Vater, ein Tischler, der im reichen Nachbarland Großbritannien arbeiten muss, um die Familie über die Runden bringen zu können, nur am Wochenende für sie da sein kann. Als der Bürgerkrieg in ihre Straße schwappt, es zu Explosionen, Straßenschlachten und Krawallen kommt, als die britische Armee mit Panzern in Belfast einrückt und radikale Unionisten Hass säen, Katholiken vertreiben wollen, aber auch andere Bewohner bedrohen, die nicht kollaborieren wollen, ist es für Buddy vorbei mit der Unbeschwertheit. Spätestens nachdem er erfahren hat, dass Ma und Pa wegen der wachsenden Gewalt mit den Kindern nach Australien, Kanada oder England auswandern wollen, wie es Ende der 1960er tatsächlich so viele Arbeiterfamilien nach massiver Einschüchterung taten. »Wenn dir damals buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, dann ist ›Belfast‹ auch ein Versuch, 50 Jahre später noch einmal mit den Augen eines neunjährigen Jungen zu sehen, was die Leute dort durchgemacht hatten.«

Buddy bedrückt die Aussicht auf den Verlust seiner vertrauten Umgebung, wo ihn jeder kennt, vor allem hat er Angst vor Verständigungsproblemen wegen seines »Norn Iron«-Akzents in einer neuen anglophonen Heimat. »Wenn sie dich nicht verstehen, dann hören sie dir nicht zu«, erwidert Großvater Pop und ermutigt den Jungen, niemals zu vergessen, wo er herkommt und wer er sei: »You know who you are. Don’t ya?« – wer sich nicht von sich selbst entfremdet, findet sich überall zurecht, und dem gelingt auch ein neuer Anfang.

»Ein Relikt meiner Belfaster Erfahrung ist die Liebe zur Sprache«, sagt Branagh. »Die Iren haben auch keine Scheu, blumige Worte zu benutzen. Irgendwie schaffen sie es dennoch immer, ihre Realität auszudrücken« – und die war vor allem für die Menschen im Norden ziemlich hart. Umso ausgeklügelter ist die Kulturtechnik, die Branagh in »Belfast« anwendet – Humor. Beispielsweise in einer Szene, in der Buddy seiner Mutter stolz eine Packung Omo-Waschmittel präsentiert, die er bei der Plünderung eines Geschäfts durch Randalierer abgestaubt hat: Als Ma ihn außer sich vor Wut und Scham über die Missetat ihres Sohnes zusammenstaucht, entgegnet Buddy zu seiner Verteidigung kleinlaut: »Es ist ökologisch.« Geradezu berüchtigt sei der »Galgenhumor der Iren«, so Branagh. »Der ist ein Bewältigungsmechanismus, eine nützliche Waffe in grimmigen Zeiten.« Charakteristisch sei eine Tragikomik, die sich auch in einem besonderen, bisweilen skurrilen Verhältnis zum Tod ausdrücke, das schon die Erlebniswelt seiner Kindheit geprägt hatte: Verstorbene wurden noch tagelang zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt, damit Freunde und Bekannte Abschied nehmen konnten. Sein Vater habe nach dem Tod seines Opas bald feststellen müssen, dass einige Nachbarn mehrmals kamen und ungewöhnlich lange blieben – nicht nur weil ihre Trauer kein Ende nehmen wollte, sondern wegen des kostenlosen Alkoholausschanks, der für eine feuchtfröhliche Stimmung sorgte, erinnert Branagh. Sein Vater habe schließlich irgendwann die Leute mit den Worten »Ich weiß, du hast meinen Vater geliebt, aber du kannst kein Guinness mehr haben« vor die Tür gesetzt.

Der köstliche irische Humor in »Belfast« wird von einer Melancholie kontrastiert, die nur von einem tiefsitzenden Trennungsschmerz herrühren kann. Der Film erzählt von einer Reihe nicht nur für einen kleinen Jungen schwer verdaulicher Abschiede – von der Stadt, den Großeltern, der ersten Liebe (eine katholische Schulkameradin), dem Working-Class-Milieu, in dem niemand aufgegeben wurde und niemand »verloren gehen konnte«, wie Branagh es beschreibt, und von dem »Gefühl der Sicherheit« in einer behüteten Kindheit, in der es auch aus dem quälendsten Dilemma immer noch einen Ausweg gab: die Fantasie. Ihr geben sich Buddy und seine Familie regelmäßig beim gemeinsamen Kinobesuch mit schier grenzenloser Leidenschaft hin – am liebsten, wenn Märchen und Fantasy wie »Tschitti Tschitti Bäng Bäng« über ein flugtaugliches Wunderautomobil (der Musicalfilm war Ende der 1960er-Jahre ein Kassenknüller) laufen.

»Hearts go astray, leaving hurt when they go/ I went away just when you needed me so/ Filled with regret I come back begginʼ you/ Forgive, forget« (Herzen verirren sich und hinterlassen Schmerz, wenn sie gehen. Ich bin weg, gerade als du mich so gebraucht hast. Voller Bedauern komme ich zurück und bitte dich – vergib, vergiss). Diese Zeilen des Soulhits »Everlasting Love«, den Branagh als Titelsong für seinen Film ausgewählt hat, beschwören eine »ewig währende Liebe«. Und sie erzählen von Reue, ohne die womöglich auch die cineastische Rückreise des Schauspielers und Shakespeare-Interpreten, der mit »Henry V.« Weltruhm erlangt hatte, in die Kindheit nicht über die Bühne gegangen ist – sicher hat er sie nicht angetreten ohne die Sehnsucht nach einst Verlorenem: der so intensiven Beziehung zu seiner leidgeprüften Geburtsstadt, deren Bewohner »nach bitteren, schrecklichen Jahren einen sehr zarten, zerbrechlichen Frieden« erkämpft und »es verdient haben, dass man ihnen zuhört«, wie Branagh betont. Da schwingt aber auch ein Heimweh nach dem Arbeitermilieu mit, das ihn, wie er sagt, zu einem Menschen mit Instinkt für das Soziale und der »Liebe zum Teilen« gemacht hat, als der er sich als Kind »so wohlgefühlt« habe. »Ich wollte diese Person wiederfinden, denn sie ist ja immer noch da.«

Maßgeblich dabei geholfen hat Van Morrison, der 1945 in Belfast geboren ist und bis heute als einer der besten weißen Rhythm-and-Blues-Sänger weltweit gilt. Dass mit Morrison, der 1968 sein legendäres Album »Astral Weeks« veröffentlicht hatte, »einer von uns« ganz groß herausgekommen war, habe damals vielen Nordiren ein »starkes Gefühl« vermittelt. »Sein Verständnis für die Stadt ist so empathisch«, findet Branagh. Oft habe er beim Schreiben des Drehbuchs einfach Musik von Morrison angeschaltet. »Sie hört sich an, als hätte er sie direkt für den Film gemacht.« Schließlich hat Morrison acht Songs aus seinem Archiv, darunter »Madame George«, und einen neuen, extra für »Belfast« geschriebenen Titel zum Soundtrack beigesteuert: »Memory Music« ist voller manchmal gnadenlos rauer und ehrlicher Straßenpoesie, mit der ein »Corner Boy«, wie Morrison sich selbst nennt, nicht ohne ein gewisses Pathos sein Außenseiterdasein feiert.

Mit »Belfast« habe er sich auf die Suche nach einer »emotionalen Wahrheit« über eine Gemeinschaft – »wie unvollkommen sie auch immer gewesen sein mag« – und den Ort begeben, wo seine eigene Geschichte begann, so Branagh. Dass er mit den wachen Augen eines kleinen, fröhlichen Jungen, der er wohl selber war und offenbar irgendwie auch geblieben ist, danach Ausschau gehalten hat, lag nahe: Im Spiel und Kopfkino von Kindern verwirklicht sich, wovon Erwachsene nur noch träumen können (in einem Moment der Gefahr imaginiert Buddy seinen Vater als den Town Marshall in »High Noon«, der die Schurken zur Strecke bringt). In Branaghs Film macht das Ersehnte das Gros des Lebensalltags eines Arbeiterjungen aus, denn alles Schöne, was Buddy erfährt, sind die Dinge, die noch nicht (vollständig) in die Warentauschform gepresst sind: Liebe, Nähe, Geborgenheit, Aufmerksamkeit, Zuwendung – und vor allem (Klassen-)Zusammenhalt, der heute vom sich aus Konkurrenzverhältnissen speisenden falschen Individualismus der neoliberalen Gesellschaft und von ihrer bürgerlichen Kälte immer mehr verdrängt wird. Indem »Belfast« gar nicht erst versucht, als politisches oder sozialkritisches Kino à la Ken Loach daherzukommen, indem der Film lebensbejahenden Humor trotz alledem und nicht wegen alledem versprüht, indem er tröstet, aber nicht falsch versöhnt, bewahrt er das Publikum soweit wie möglich davor, in die Ideologiefallen der Kulturindustrie zu stolpern. Er liefert lieber Massenunterhaltungskunst mit hohem Gebrauchswert für alle, die dringend etwas Herzenswärme und Zuflucht vor der verdammten Einsamkeit brauchen, die den Menschen in dieser schweren Zeit so zu schaffen macht. »Wenn die Zuschauer aus diesem Film das Gefühl mitnehmen, dass wir alle nicht allein sind«, sagt Branagh, »dann wäre ich wirklich begeistert.«

[≡] Belfast
Regie: Kenneth Branagh
Universal Pictures

Der Kinostart von »Belfast« in Deutschland ist am 24. Februar 2022

Das Interview erscheint in der Melodie & Rhythmus 1/2022, erhältlich ab dem 17. Dezember 2021 am Kiosk, im Bahnhofsbuchhandel oder im Abonnement. Die Ausgabe können Sie auch im M&R-Shop bestellen.

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